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Beitrag vom 20.07.2009
Astrid Herbold - Das große Rauschen
Clarissa Lempp
Astrid Herbold macht sich auf, die "Lebenslügen der digitalen Gesellschaft" zu entlarven. In fulminanter Wortakrobatik zeichnet sie ein komisches und doch oft auch bitter wahres Bild des E-Hypes.
Handys, Social Network-Seiten im Internet, allgegenwärtige Erreichbarkeit, unbegrenzte Kommunikationsmöglichkeiten, Foren, World News, digitale Fotoalben auf der Familienhomepage – das "globale Dorf" in dem wir leben, ist scheinbar kein idyllisches. Astrid Herbold nimmt in "Das große Rauschen" die Freiheitsverheißungen der digitalen Allgegenwärtigkeit nicht nur unter die Lupe, sondern auch aufs Korn. Spitzfedrig (bzw. spitztastig) schreibt sie sich die Zweifel am glorreichen Einzug des digitalen Zeitalters von der Seele. Digitalfoto-Messies, die ihre Liebe zu Familie, Natur und Leben mit hunderten Fotos beweisen müssen, beleidigende Forumskommentatoren, der Verfall der Kulturfertigkeiten durch SMS Abkürzungen und Chat Sprache, die Sehnsucht nach der ewigen digitalen Selbstdokumentation – all dies bedauert die Germanistin in ihrer wortstarken Ausführung.
Herbold, die gerne mal als Internetgegnerin beschrieben wird, scheint hier ihrer Neue-Medien-Müdigkeit ein Ventil zu geben, positive Aspekte der digitalen Kultur klammert sie vollkommen aus. So ist das Buch ein Aufschrei gegen eine vermeintliche Lebensqualität, die neueste technische Errungenschaften mit sich bringen sollten. Vieles ist mit einem einvernehmlichen Schmunzeln kommentierbar, so die aufgedrängte Privatsphärengrenzüberschreitung, die dauertelefonierende Mitmenschen gerne mal in der U-Bahn oder im Supermarkt praktizieren. Aber Herbold bringt auch Themen aufs Blatt, die gerne mal im IT-Taumel übergangen werden. So zum Beispiel die angebliche Umweltfreundlichkeit der digitalen Privatarchivierung, des Internetshoppings und des E-Books. Denn wo viele Bilder, Textkopien und anderes printbares Sammelmaterial entstehen, ist auch der unmäßige Verbrauch von Papier nicht weit, so Herbold. Vor allem aber sind tatsächlich die Herstellung der technischen Hilfsmittel und der Dauerbetrieb weltweit verstreuter Server nichts Gutes für eine grüne Ressourcen- und Energiepolitik. Allzu gerne verliert sich die Autorin aber im wiederborstigen Rezitieren gesellschaftlicher Unkenrufe, wie dem Zerfall der Familie, der Verderbnis der Jugend und überhaupt des täglichen Miteinanders.
Zur Autorin: Astrid Herbold, geboren 1973, ist promovierte Germanistin und lebt als freie Autorin und Journalistin in Berlin-Mitte. Sie hasst es "gegoogelt" zu werden, und würde Fotos ihrer Kinder niemals bei Myspace einstellen. (Verlagsinformation)
AVIVA-Tipp: Astrid Herbold rechnet ab mit digitaler Vernetzung, ungehemmtem Kommunikationsfluss und den e-Weltverbesserungsgläubigen, die Sport und Gitarrenunterricht an der Spielkonsole betreiben. Vieles ist nicht neu und manches ist nur halb gedacht, aber Herbolds feurig-komische Sprachgewalt ist es wert, ein unmodernes, papierverschwenderisches, vergängliches Buch in die Hand zu nehmen.
Astrid Herbold
Das große Rauschen
Droemer Knaur Verlag, erschienen April 2009
Broschiert, 190 Seiten
ISBN-10: 3426274922
ISBN-13: 978-3426274927
14,95 Euro