Deutschland dritter Klasse - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur





 

Chanukka 5785




AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 14.06.2009


Deutschland dritter Klasse
Clarissa Lempp

Die JournalistInnen Julia Friedrichs, Eva Müller und Boris Baumholt berichten in "Deutschland dritter Klasse" von der sozialen Hartz IV - Wirklichkeit und dem Leben in der Unterschicht.




Deutschland dritter Klasse – so leben viele Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, BilliglohnarbeiterInnen und ihre Familien. So zu leben heißt auch, ausgegrenzt zu sein. Es bedeutet Sozialkaufhäuser, Anstehen für gespendete Lebensmittel, Gänge zu Ämtern, Zukunftsangst oder Resignation. Sie werden "die Abgehängten", Prekariat oder die neuen Armen genannt. Willkommen im Hartz IV-Land. Drei junge JournalistInnen haben vier Jahre lang Menschen begleitet, die sich täglich in dieser Welt bewegen. Es sind Geschichten aus dem Abseits.

In Wattenscheid lebt Familie Weber. Der Vater ist langzeitarbeitslos, ebenso sein ältester Sohn, der zusammen mit seiner Frau und der kleinen Tochter in der Wohnung unter dem Vater wohnt: Drei Generationen Hartz IV unter einem Dach. Die Webers verbringen ihre Tage rauchend vor dem Fernseher, sind angespannt von der Enge ihres Zuhauses. Sie bezeichnen sich selbst als "Unterschicht", ein Begriff, der auch in der öffentlichen Diskussion immer stärker verwendet wird. Die Gänge zum Arbeitsvermittler sind mehr Pflicht als Hilfe. Die Webers bewegen sich in einer Parallelwelt, die keine Teilhabe mehr verspricht. Andere sollen durch "Ein-Euro-Jobs", Arbeitstherapien und andere arbeitsfördernde Maßnahmen "motiviert" werden oder "verkaufen" sich für Billiglöhne an Zeitarbeitsfirmen. Erfolgsgeschichten bleiben rar. Der Rektor der Förderschule Wattenscheid unterrichtet deshalb "Hartz IV", er will seine SchülerInnen auf das Leben nach der Schule vorbereiten. Denn wer einmal unten angekommen ist, kommt kaum wieder hoch. Das stellten auch die AutorInnen fest. Zwischen den Berichten über die Menschen stehen Zahlen, Zahlen die erschreckend klar ausdrücken, wie sich Armut reproduziert, wie sie über die Generationen hinweg greift. Schnell zeigt sich, dieses Buch ist keine Momentaufnahme, es ist viel mehr eine Warnung, vor dem was noch kommen mag.

Zu den AutorInnen:
Julia Friedrichs
, geboren 1979, arbeitet als freie Autorin von Fernsehreportagen und Magazinbeiträgen. 2008 erschien ihr erstes Buch "Gestatten: Elite. Auf den Spuren der Mächtigen von morgen" bei Hoffmann und Campe, das ein Bestseller wurde. Ihr Film Abgehängt. Leben in der Unterschicht, den sie zusammen mit Eva Müller drehte, wurde mit dem Axel-Springer-Preis und dem Ludwig-Erhard-Förderpreis ausgezeichnet.
Eva Müller, geboren 1979, arbeitet als freie Journalistin, vor allem für "Monitor" sowie die WDR-Redaktionen "Die Story" und "Aktuelle Dokumentation". Für den Film Die Hartz-IV-Schule wurde sie 2008 mit dem Förderpreis des Deutschen Fernsehpreises ausgezeichnet.
Boris Baumholt, geboren 1975, arbeitete als freier Journalist für den WDR und verschiedene Redaktionen der ARD, unter anderem die "Tagesschau", das "ARD Morgenmagazin" und die Redaktion "Aktuelle Dokumentation". 2006 erhielt er den Medienpreis des deutschen Zeitarbeitverbandes für den Film "Die Billigarbeiter". Seit 2007 ist er fester Redakteur beim WDR
(Verlagsinformation)

AVIVA-Tipp: Den AutorInnen ist ein feinfühliger Bericht zur Lebenssituation mit Hartz IV gelungen. Die Paraphrasen des "Prekäriats", der "Abgehängten", der neuen Armut bekommen menschliche Gestalt, ohne weichgewaschen zu werden. Aber es bleibt ein Blick von Außen. Denn die AutorInnen nutzen nur zwei Blickwinkel: direkt in die Unterschicht und bei der Schuldsuche nach oben, auf die sozialpolitischen Entwicklungen. Zwar streifen sie in ihren Begegnungen immer wieder die dritte Instanz, die Mitte, die zivilgesellschaftliche Verantwortung, die sie aber nicht anzumahnen trauen. So bleibt es eine Reportage über die Betroffenheit und nicht für die Betroffenen – das zeigte sich auch bei der Buchpräsentation in Berlin, bei denen viel über die gesprochen wurde, die nicht anwesend waren der Eintritt zu den Lesungen betrug nicht nur in Berlin 10 Euro (bereits ermäßigt).


Julia Friedrichs, Eva Müller, Boris Baumholt
Deutschland dritter Klasse: Leben in der Unterschicht

Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, erschienen April 2009
Broschiert, 220 Seiten
ISBN-10: 3455501125
ISBN-13: 978-3455501124
14,95 Euro (D)


Literatur

Beitrag vom 14.06.2009

Clarissa Lempp