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Beitrag vom 10.07.2008
Unterwegs in Europa. Beiträge zu einer vergleichenden Kulturgeschichte, Campus Verlag
Christiane Krämer
Die Vorstellung eines friedliebenden, bunten Europas wird in historischen Analysen einer radikalen Kritik unterzogen! Horizonterweiternde Lektüre für Kultur- und GeschichtswissenschaftlerInnen
Ob ein riesenhaftes, in sich heterogenes Staatengebilde wie die Europäische Union die Widersprüchlichkeit ihrer eigenen Konstruktion unbeschadet aushalten kann, ist die Ausgangsfrage des Sammelbandes.
Politische Konstituierungsprozesse von Territorium und Identität funktionieren durch gewaltsame Grenzziehungen. Dies wird in der ersten Buchhälfte anhand der Auseinandersetzung über Krieg, Terrorismus, Separatismus und sozialen Bewegungen und Kämpfen veranschaulicht. Diese Dynamiken sind aber nicht nur destruktiv, sondern ermöglichen entscheidende Veränderungen für das europäische Selbstverständnis, wie die Französische Revolution zeigt.
Die kollektive Imagination humanistischer Ideale der Aufklärung und die mythische Erzählung eines gemeinsamen Kulturerbes der Antike werden in Verbindung mit der Behauptung christlicher Werte in laizistischen Rechstaaten analysiert. Die Vereinheitlichung der wirtschaftlichen Handelszone der EU ohne feste Größe wird so möglich und durch die "islamische Welt" als konstitutives Außen begrenzt. Diese Konstruktion erscheint jedoch durch den diskutierten Beitritt der Türkei einmal mehr hinfällig – das Potenzial der Türkei als grenzüberschreitender Zwischenraum wird an dieser Stelle nicht konsequent zu Ende gedacht.
Die In- und Exklusionspolitik lässt sich am Beispiel der Bekämpfung des Terrorismus veranschaulichen, der europapolitisch als Angriff auf die "westlichen Zivilisationen" und ihre Werte beurteilt wird.
Die so legitimisierten undurchsichtigen transnationalen Überwachungspraktiken führen nicht nur zum Ausschluss und der Kriminalisierung bestimmter MigratInnengruppen als "Sicherheitsrisiko" und der Abschottung der Außengrenzen. Sie machen auch vor Bürgerrechten nicht halt und schließlich scheint die zivile Gesellschaft selbst als Gefährdung. So scheint sich die These Michel Foucaults in einigen Texten zu bewahrheiten, nach der die Masse der Bevölkerung im Zuge der Revolution und im Übergang zu kapitalistischen Nationalstaaten selbst zur Zielscheibe der "Biopolitik" wird.
Einsprüche und soziale Widerstände gegen diese Politik und gewaltsame Konflikte, wie sie beispielsweise in den Pariser Vororten aufflammten, werden jedoch ebenso thematisiert wie Neuverhandlungen in kulturellen Alltagspraktiken. Das Kapitel über innovative Konsumpraxis wirkt jedoch angesichts der vorhergegangenen Themen als eher leichte Kost. Schließlich führt die vergleichende Auseinandersetzung mit Ost und West und der europäischen Stadt zu einer Infragestellung derartiger Kategorien.
AVIVA-Tipp: Die sozial- und kulturgeschichtlichen Analysen wollen nicht die Entstehung Europas rekonstruieren, sondern vielfältige geschichtliche Diskurse über Krieg, Rebellion, Stadt, Ost und West für aktuelle Fragestellungen nutzbar machen. "Unterwegs in Europa" trägt mit den spannenden interdisziplinären Grenzgängen selbst zum interdisziplinären Projekt transnationaler Fortschreibung eines zukünftig vieldimensionalen und offeneren Europas bei.
Zu den AutorInnen/HerausgeberInnen:
Christina Benninghaus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie an der Universität Bielefeld, ebenso wie ihre herausgebenden Kollegen Jörg Requate und Sven Oliver Müller. Charlotte Tacke arbeitet als freischaffende Historikerin in Italien.
Christina Benninghaus, Sven Oliver Müller, Jörg Requate, Charlotte Tacke (HerausgeberInnen)
Unterwegs in Europa. Beiträge zu einer vergleichenden Kulturgeschichte
Campus Verlag, erschienen April 2008
Taschenbuch, 390 Seiten
ISBN-13: 978-3593387178
45 Euro