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Beitrag vom 28.10.2008
Simona Vinci - Zimmer 411
Henriette Jankow
Simona Vincis Heldin schreibt einen Brief an die Liebe ihres Lebens, den "Mann, den es nicht gibt" und erzählt eine große, ehrliche Liebesgeschichte, deren Kulisse ein Hotelzimmers in Rom ist.
In Zimmer 411 eines römischen vier Sterne Hotels steht eine Frau vor einem Spiegel und mustert sich. Ihre Blicke wandern den Körper hinunter und zersetzen ihn, betrachten die bläulichen Adern und den verhassten Busen. Ihre Hände folgen jenem routinierten "der Optimierung und Pflege dienenden Bewegungsablauf", der sie "voll und ganz der Gattung Frau zuschreibt". Ihr Wille zur Schönheit wird zu einem Prozess der Selbstentfremdung. Sie enthaart und cremt sich, lackiert ihre Nägel, wohl wissend, dass dies alles von Männern kaum wahrgenommen wird. In diese mechanisierten Körperregungen mischt sich die Erinnerung an eine vergangene Liebe. So wird das Zimmer 411 zur Kulisse einer Begegnung zweier Menschen, einer Frau und eines Mannes, die hier ihre Beziehung begannen.
Zurückgekehrt an diesen Ort, schreibt die Protagonistin einen Brief an den "Mann, den es nicht gibt" und den sie mehr geliebt hat als irgend jemand sonst. Die Namen der Liebenden bleiben unbekannt und im Grunde sind sie auch nicht wichtig. Die Hauptpersonen dieses Briefromans verbleiben anonym. Wir erfahren nicht viel über ihre Berufe oder ihr Verhältnis zu anderen Menschen. Allein die Beziehung zueinander ist für die LeserIn von Interesse und während die Protagonistin ihre Verbindung zu dem Mann aufarbeitet, kann man ihr unglaublich nah kommen. So gewährt die Anonymität, die dem Erzählten einen universellen Charakter verleiht, einer Intimität Raum, derer sich die LeserIn nicht entziehen kann. Das Buch ist ein Abschiedsbrief an eine gescheiterte Liebe, ein "Kriegsbericht" vom Schauplatz des blutenden Herzens einer Mitdreißigerin.
Briefe erzählen Geschichten auf ihre Weise. Die Protagonistin gibt das Wort nur selten ab und die Dialoge zwischen ihr und ihrem Geliebten speisen sich allein aus ihren Erinnerungen. Die Schilderungen von Rom, der Stadt, die nicht ihre ist und die sie insgeheim hasst, folgen den Wahrnehmungen einer Frau, die, in sich zurück gekehrt über die Möglichkeit einer dauerhaften Verbindung zweier Menschen sinniert und dabei feststellen muss, dass sie und ihr Geliebter dem menschlichen Unvermögen erlegen waren, aus einem Ich und einem Du ein Wir zu machen.
Man erfährt nicht, warum genau sie sich in den Mann verliebt hat. Ebenso wenig wird klar, warum die Beziehung auseinander ging. Gerade in Bezug auf den Anfang und das Ende der Liebe erscheint die Geschichte dem wahren Leben so entrissen. Wann hört eine Liebe auf zu existieren und was bleibt, von dem was gewesen ist? Das ist die zentrale Frage, die Simona Vinci in diesem Roman stellt. Ihre Antwort – die allenfalls eine Spekulation sein kann - es ist die Kontrolle, "der Versuch, miteinander zu verschmelzen, in dem anderen aufzugehen, gepaart mit dem Wunsch, angesichts der unfreiwilligen Auflösung des eigenen Panzers den des anderen zu zerstören, ihn zu vernichten, ... um sich ihn noch leichter einzuverleiben und endgültig unschädlich zu machen."
Zur Autorin: Simona Vinci wurde 1970 in Mailand geboren. Für ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde sie mit dem renommierten italienischen Literaturpreis "Premio Elsa Morante" ausgezeichnet. Ihr Debütroman "Von den Kindern weiß man nichts" (2003), der die scheinbar unvereinbaren Themen Kinder und Sexualität mit einander verband, wurde sehr kontrovers diskutiert. Simona Vinci lebt in Budrio bei Bologna.
AVIVA-Tipp: Das, was Simona Vinci mit diesem Briefroman hervorgebracht hat, ist eine ungeschönte, ausdrucksstarke und wunderbar lyrische Bestandsaufnahme der Gefühlswelt einer Frau, die, eigentlich mitten im Leben stehend, nach dem Ende einer ebenso verheißungsvollen, wie verheerenden Beziehung völlig aus der Bahn gerät. Sie beschreibt die Anatomie einer Liebe: ihren leidenschaftlichen Beginn und ihr ebenso schmerzvolles Ende, die Hoffnung auf Vervollkommnung und das Unvermögen, selbige zu zulassen. Der Roman ist zuweilen mit eindrucksvollen Gedicht- und Textzeilen, unter anderem von Wislawa Szymborska und Rainer Werner Fassbinder, gespickt und huldigt so der lyrischen Kraft der Worte. Die Autorin selbst entfaltet ihr unbestreitbar großes Talent, der Innenwelt ihrer Protagonistin durch einen schnörkellosen, wahrhaftigen und dabei so ergreifenden und anmutigen Stil allen Raum zu gewähren, so dass die LeserIn nicht anders kann, als sich der Melancholie zu ergeben.
Simona Vinci
Zimmer 411
Originaltitel: Stanza 411
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
Goldmann Verlag, erschienen Juli 2008
160 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-442-31145-3
16,95 Euro