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Beitrag vom 16.12.2008
Elinor Lipman - Als sie mich fand
Margret Müller
Aprils leibliche Mutter spürt die verlorene Tochter auf und stellt deren geordnetes Leben gehörig auf den Kopf. Die unterhaltsame Annäherung einer Klischee-Lateinlehrerin und eines Fernsehstars.
Aprils Eltern haben die KZs Bergen-Belsen und Auschwitz überlebt, sich in Amerika kennen- und liebengelernt, geheiratet und April adoptiert. Aber darum geht es in dem Buch nicht. Es geht darum, was geschah, nachdem die Eltern starben und sich die leibliche Mutter, Bernice Gravermann, die verkappte Oprah Winfrey eines Bostoner Lokalsenders, lauthals den Weg zurück zu ihrer Tochter bahnt. Diese hatte sie weder gesucht, noch vermisst und empfängt sie dementsprechend unwillig.
Zwar meint April kurzzeitig, eine "vorgeburtliche Erinnerung" an sie zu spüren, doch eigentlich ist diese theatralisch selbstverliebte und exzentrische Showmasterin mit sehr ausgeprägtem Sexualleben ungefähr das Gegenteil der schüchtern-schnöden Lateinlehrerin April, die lieber Holzfällerhemden als ausgefallene Abendgarderobe trägt und im Höchstfall mäßiges Männerinteresse aufbringen kann. Trotz all dieser augenscheinlichen Differenzen, die Fragen auf die Vererbbarkeit charakterlicher Eigenschaften aufwerfen sollten, versuchen beide, sich in wöchentlichen Treffen näher kennen zu lernen. Mit dem geordneten Lateinlehrerinnen-Dasein ist es erst einmal vorbei.
Dass April sich Mr. Willamee, den schlaksigen Bibliothekar der Schule, für die Recherchen zur angeblichen - von Bernice aber steif und fest behaupteten - Vaterschaft John F. Kennedys aussucht, ist durchaus logisch und nachvollziehbar. Dass dieser – von ihr als Ausgeburt der Langeweile mit dem "traurigen Skelettgesicht" beschriebene, von jedem Klassenclown der Schule nachgeäffte, den Auszug aus dem Elternhaus verpasst habende Bibliothekar – die erste Wahl zu einem Doppeldinner mit der neuen Mutter ist, mag auf Aprils Mangel anderweitiger männlicher Bezugspersonen hindeuten. Aber spätestens als die beiden beginnen, romantische Lehrerkorrespondenz zu führen und April ein erstes Date – wohl zum Trotz gegen das Aufbegehren Bernice´s - arrangiert, bleibt der lesende Kopf etwas verwirrt auf der Strecke. Als Erklärung muss der plötzlich unwiderstehliche Handgelenksknochen des Angebeteten ausreichen. Diesen kann April dann auch beim Anhalten um ihre Hand nicht widerstehen und genau ab dem Punkt vereinfacht sich die weitere Lektüre schlicht durch die Annahme, das perfekte Paar sei soeben zusammen gekommen.
Trotz aller anfänglichen Charakterisierungen der ProtagonistInnen ist deren Handeln also nicht statisch auf sie zugeschnitten, vielmehr ist Raum für spontane unerwartete Veränderungen geblieben. Selbst Bernice wird ab einem gewissen Punkt sympathisch, wenn auch das ständige Beharren auf ihrer selbstbezogenen Exzentrik mit der Zeit ausgekaut anmutet. Die Beziehung von Mutter und Tochter ist bestenfalls als eigenwillig zu beschreiben, wachsend aber auch nicht komplett stringent. Zwar scheint nichts sie zu verbinden (außer ein paar Genen) und von Seiten Aprils auch keinerlei Anlass für eine neue Mutter zu bestehen, treffen sie sich dennoch regelmäßig und scheinen auf Anhieb die wichtigsten Bezugspersonen füreinander zu sein, hält sich doch die Zahl der Nebendarstellerinnen für vertrauliche Seelengespräche in etwa bei Null.
Zur Autorin: Elinor Lipman wurde 150 in Massachusetts, USA, geboren. Sie ist Autorin mehrerer Romane, die in der heutigen amerikanischen Gesellschaft handeln und einiger Kurzgeschichten. Zudem veröffentlicht sie für Washington Post, Boston Globe und Salon.com Essays und unterrichtet Schreiben an verschiedenen Colleges in Massachusetts. Im Jahr 2001 wurde ihr der "New England Book award for fiction" verliehen.
AVIVA-Fazit: Auf einem interessanten Plot basierend ist "Als sie mich fand" Grundlage für Helen Hunts Regie-Debut von "Then She Found Me", bei dem allerdings die Liebesgeschichte geändert wurde. Für eine derartige Schmonzette hervorragend als Vorlage geeignet, stellt dieser Roman keine starken Herausforderungen an die Gehirnwindungen. Moralische Erörterungen angerissener Thematiken mit diskutablem Konfliktstoff (wie Spätfolgen von Adoptionen, die Ambivalenz des "Erbes" zwischen Erziehung und Genen, die Charakteristika Holocaustüberlebender zweiter Generation) umschifft die Autorin Elinor Lipman gekonnt und hält dadurch das Buch auf einem Niveau, bei dem es unbeschadet und in einigen vergnüglichen Stunden verschlungen werden kann.
Elinor Lipman
Als sie mich fand
aus dem Englischen von Uschi Gnade
Deutscher Taschenbuch Verlag, erschienen im Oktober 2008
363 Seiten
8,95 Euro
ISBN-13: 978-3423210874