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Beitrag vom 04.11.2008
Kathrin Kompisch - Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus
Britta Leudolph
Die NS-Täterinnen waren jahrzehntelang aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Kathrin Kompisch untersucht, in welchen Bereichen Frauen an den Verbrechen der NS-Diktatur beteiligt waren. Die Geschichtsforschung zur NS-Diktatur...
...war lange Zeit ausschließlich auf die männlichen Täter und Mitläufer fokussiert, allein über Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Hermann Göring wurden dutzende Biographien verfasst.
Doch welche Rolle spielten Frauen im "Dritten Reich"? Waren sie wirklich nur unbeteiligte Zeitgenossinnen, oder gar Opfer der patriarchalen Machtverhältnisse innerhalb der NS-Diktatur, wie es bis in die 1990er Jahre noch von vielen deutschen HistorikerInnen gesehen wurde?
Nur wenige Frauen wurden durch die KriegsverbrecherInnenprozesse der MittäterInnenschaft überführt und verurteilt, wie etwa Irma Grese, die "SS-Megäre von Bergen-Belsen" oder Ilse Koch, die "Hexe von Buchenwald". Diese Frauen "[...] wurden individuell skandalisiert, mystifiziert und pathologisiert, um ihre Taten als erschütternde Einzelfälle abtun und eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Frauen im nationalsozialistischen Deutschland vermeiden zu können." Öffentlich wurden die Täterinnen als abartig dämonisiert, was es der Mehrheit der "normalen" Frauen ermöglichte, eine schützende Distanz aufzubauen.
Kathrin Kompisch stellt diesem Mythos ein realistisches Bild gegenüber: Frauen waren in der SS-Gefolgschaft tätig, assistierten als Ärztinnen oder Krankenschwestern bei Menschenversuchen und "Euthanasie"-Aktionen, andere bewachten Konzentrationslager und misshandelten weibliche Häftlinge brutal.
Waren Frauen auch nicht auf höchster politischer Ebene präsent und hatten nicht die gleiche Machtfülle der Männer inne, beschränkte sich ihr Wirkungskreis keineswegs auf "Heim und Herd", ganz im Gegenteil: Die Erwerbsbeteiligung der Frauen nahm im "Dritten Reich" zu, insbesondere nach Kriegsbeginn, was ihnen indirekt Einfluss verschaffte. Frauen waren in zahlreichen Verbänden organisiert und "[...] übernahmen in ihnen als "Führerinnen im Führerstaat" Führungsaufgaben."
Der Autorin geht es weniger um die Schuldfrage als um die historische Analyse der Handlungsspielräume, innerhalb derer Frauen aktiv agieren konnten. Kompisch untersucht die verschiedenen Bereiche, in denen Frauen für das System arbeiteten: den Polizeidienst, das Sozial- und Gesundheitswesen, die Konzentrationslager oder den Kriegsdienst. Ergänzt wird die Studie durch Kurzbiografien von Frauen, die auf den unterschiedlichen Ebenen für die NS-Diktatur tätig waren.
Zur Autorin: Kathrin Kompisch wurde 1973 in Hamburg geboren. Sie studierte dort von 1996 bis 2002 Geschichte, Vor- und Frühgeschichte und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Sie hat mehrere Bücher zur deutschen Kriminalgeschichte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Kompisch lebt als freie Autorin in Hamburg.
AVIVA-Tipp: "Täterinnen" ist ein wichtiger Beitrag zur deutschen Geschichtsforschung und zur Erkenntnis einer gesamtgesellschaftlichen Schuld für die nationalsozialistischen Vergehen. Kathrin Kompisch stellt in ihrer Analyse deutlich heraus, dass Frauen in vielen Bereichen Verantwortung übernahmen und im Sinne des "Dritten Reichs" aktiv waren. Die Autorin beschreibt ein breites Spektrum weiblicher Täterschaft und fragt nach den Motiven für ihr Handeln. So entsteht eine komplexe Darstellung der Beteiligung von Frauen an nationalsozialistischem Unrecht. Besonders bitter ist wohl die Feststellung, dass viele Frauen nicht aus Überzeugung oder krankhaftem Wahn zu Verbrecherinnen wurden, sondern dass es größtenteils "normale" Frauen waren, die apathisch, feige und autoritätsgläubig den "Führerwillen" ausführten oder diesen in vorauseilendem Gehorsam antizipierten.
Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus
Kathrin Kompisch
Böhlau Verlag, erschienen Oktober 2008
Gebunden, 264 Seiten, 20 s/w-Abbildungen
ISBN 978-2-412-20188-3
22,90 Euro
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