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Beitrag vom 20.11.2024
Tanja Röckemann - Die Welt, betrachtet ohne Augenlider (Gisela Elsner, der Kommunismus und 1968)
Silvy Pommerenke
Die Wissenschaftsredakteurin Tanja Röckemann stellt die westdeutsche Autorin Gisela Elsner in den Mittelpunkt ihrer Sozialgeschichte der Literatur des 20. Jahrhunderts und vermittelt einen detaillierten Abriss der linkspolitischen Entwicklung in der BRD.
Bei "Die Welt, betrachtet ohne Augenlider" handelt es sich um die gekürzte und überarbeitete Fassung der Dissertation Tanja Röckemanns aus dem Jahr 2020 an der Universität Potsdam. Im Mittelpunkt ihrer Forschung steht die Satirikerin und kommunistische BRD-Autorin Gisela Elsner (1939–1992), die gegen das Establishment, die Politik der alten Bundesrepublik und gegen bestehende Geschlechterordnungen angeschrieben hat. Tanja Röckemann entwickelt in ihrem anspruchsvollen Text ein Panorama der bundesrepublikanischen Linken zwischen "68" und der "Wende", und stellt es als widersprüchlichen Prozess sozialer Liberalisierung einerseits und neoliberaler Modernisierung andererseits dar.
Ein neuer Stern am Literaturhimmel scheitert am politischen System
Gisela Elsner, geboren 1937, erhielt bereits für ihren ersten Roman "Die Riesenzwerge" 1964 den "Prix Formentor" und wurde der neue Stern am Literaturhimmel. Ihre Stimme wurde in der Öffentlichkeit gehört und beachtet, so äußerte sie sich auch vielfach zur Politik in der BRD und verwies auf den postfaschistischen Charakter der westdeutschen Gesellschaft.
Politisch ordnete sie sich weder der Neuen Linken noch der SPD zu, sondern stand wesentlich weiter links und rief 1972 dazu auf, die DKP zu wählen, bevor sie 1977 selbst der Partei beitrat. Spätestens ab diesem Zeitpunkt lag Elsners Hauptaugenmerk auf dem Antikommunismus der bundesrepublikanischen Politik, was unter anderem an dem Radikalenerlass und den Berufsverboten lag. Mit ihrer Literatur wollte sie eine kritische Aufdeckung gesellschaftlicher Missstände forcieren und sah "die Zukunft der Menschheit nur durch den Kommunismus gesichert". In ihren Romanen und Erzählungen lässt sich Elsners Politisierungsprozess erkennen - beispielsweise durch "die sozialistische Kritik an der westdeutschen Friedensbewegung" - der allerdings von den zumeist männlichen Literaturkritikern eher negativ aufgenommen wurde. Auch ihre schriftstellerische Entwicklung in den frühen 1970er Jahren von der Groteske hin zur Gesellschaftssatire, wurde oftmals negativ aufgenommen, da sie einer vermeintlich weiblichen Schreibweise nicht entsprach.
Die Konflikte, die Elsner aushalten musste bzw. forcierte, bezogen sich aber nicht nur auf die Rezeption ihrer Schriften, sondern auch auf ihren Hausverlag Rowohlt. Die politischen Diskrepanzen waren anscheinend zu groß zwischen der kommunistischen Gisela Elsner und dem SPD-nahen Verlag, so dass sie im Jahr 1986, nach der Übernahme durch den Holtzbrinck-Konzern, hinausgeschmissen wurde.
Anschreiben gegen die politische Landschaft
Nach Auslandsaufenthalten in Rom, London und Paris kehrte Gisela Elsner Ende der 1960er Jahre zurück in die Bundesrepublik. Die politische Landschaft war nun geprägt von der antiautoritären Student*innenbewegung, zu der sich Elsner allein aufgrund ihres Alters nicht zugehörig fühlte, aber auch, weil sie "sie als anarchistisches Linkssektierertum versteht und ablehnt".
Seit den frühen 1970er Jahren schrieb sie für die Zeitschrift konkret und veröffentlichte dort politische Aufsätze, distanzierte sich aber weiter zur Neuen Linken. Ebenfalls distanzierte sie sich von der sogenannten Frauenliteratur, die sie als diskriminierend wahrnahm und vertrat die These, "dass jegliche von Frauen verfasste Literatur unter die Kategorie Frauenliteratur subsumiert werden kann – was die Ghettoisierung von weiblichen Autorinnen im Allgemeinen vorantreibt, anstatt die bürgerlichen Geschlechterrollen anzugreifen."
Während sich die Autor*innen der "68er*innen" der Neuen Innerlichkeit zuwendeten und den Rückzug ins Private antraten, so nahm Elsner auch hiervon Abstand. Obgleich sie mit "Die Zerreißprobe" und "Abseits" explizit autobiographische Romane veröffentlichte, so sah sie einen Gegensatz zwischen Subjektivismus und Wahrheit: "Mich interessieren die Bewusstseinsveränderungen und das Innenleben eines Autors nicht. Damit kann man die Wirklichkeit nicht widerspiegeln."
Überall zwischen den Stühlen
Auch mit der Frauenbewegung konnte sich Gisela Elsner nicht anfreunden, da sie sie für unzulänglich hielt. Lediglich für den Kampf gegen die Illegalisierung und Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen setzte sie sich ein. Unter anderem beteiligte sie sich an der Stern-Kampagne von 1971 "Wir haben abgetrieben".
Mit ihrer politischen Meinung saß Gisela Elsner bald zwischen allen Stühlen und sie fühlte sich nirgends zugehörig, was 1989 auch zu einem kurzfristigen Austritt aus der DKP führte. Es gäbe "offenkundig keinen Staat und kein Gesellschaftssystem, dass ich ohne Vorbehalte befürworten könnte."
Sie sah sich als "Verfasserin satirischer, gesellschaftskritischer Romane, [...] die alle das Ziel einer umwälzenden Veränderung des hier herrschenden kapitalistischen Gesellschaftssystems anpeilten", und die DKP hätte ihren Namen "als Zierrat missbraucht" und sie nicht ernst genommen. Aber nicht nur das, sondern Gisela Elsner sah sich auch "innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft zweifach ghettoisiert: als weibliche Autorin im Literaturbetrieb und als Kommunistin in der Gesamtgesellschaft."
Kurz nach dem Mauerfall trat Elsner wieder in die DKP ein und sollte für den kurzen Rest ihres Lebens den Fall der Mauer und den Zusammenbruch des Realsozialismus nicht verkraften. Im Jahr 1992 beging sie Suizid.
AVIVA-Tipp: Tanja Röckemann beschreibt ausführlich, wie sich Gisela Elsner mit ihren Romanen und vor allem mit ihren politischen Schriften dem Literatur- und gesellschaftlichen Geschehen der Bundesrepublik entgegensetzte. Vor allem aber ist ihre Dissertation ein detaillierter Abriss der linkspolitischen Entwicklung, der antikommunistischen Prägung von Staat und Gesellschaft der BRD, der Verlagsgeschichte von Rowohlt, dem - zumeist männlich dominierten - Literaturbetrieb und der Zweiten Frauenbewegung.
Gisela Elsner: geboren 1937, stellte 1962 Auszüge von "Die Riesenzwerge" in der Gruppe 47 vor, erhielt 1964 dafür den "Prix Formentor" und war seitdem ständiges Enfant terrible auf der deutschen Literaturbühne. Obwohl sie etliche Erzählungen, Romane und Aufsätze veröffentlichte, sie dafür auch eine außergewöhnliche Resonanz in der Öffentlichkeit erhielt, so wurde jedoch immer kontrovers über sie diskutiert. Gegen Ende ihres Schaffens und Lebens (1992 beging sie Suizid) war sie zu einer Verbannten der Literatur geworden.
Tanja Röckemann: arbeitet seit 2021 als Wissenschaftsredakteurin bei nd.DieWoche. Im Ressort "Mikroskop" betrachtet sie Wissensproduktion ideologiekritisch, nimmt feministische und rechtskritische Perspektiven ein und versucht herauszuarbeiten, was das alles mit Kapitalismus zu tun hat. Jenseits der Lohnarbeit ist sie Teil des "tippel orchestra", das politische Themen in szenischen Lesungen auf die Bühne bringt. (Verlagsinformationen)
Tanja Röckemann nach ihrer Lesung am 25.10.2024 in der Vierten Welt Berlin. Foto: Silvy Pommerenke
Tanja Röckemann - Die Welt, betrachtet ohne Augenlider (Gisela Elsner, der Kommunismus und 1968)
Verbrecher Verlag, erschienen 10/2024
Broschur, 405 Seiten
ISBN 978-3957326058
Euro 29,00
Mehr zum Buch unter: www.verbrecherverlag.de
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