Deborah Feldman: JUDENFETISCH - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur





 

Chanukka 5785




AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 26.09.2023


Deborah Feldman: JUDENFETISCH
Nea Weissberg

Die Fortschreibung von UNORTHODOX und ÜBERBITTEN erzählt von der Suche der Autorin nach einer neuen selbstbestimmten jüdischen Identität. Dabei folgt sie jedoch Strukturen des von ihr kritisierten Systems der Ultraorthodoxie und reproduziert dieses Narrativ.




Die Suche nach Zugehörigkeit? Was hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin?

Die Bestsellerautorin Deborah Feldman ("Unorthodox" und "Überbitten") wuchs in einer ultraorthodoxen jüdischen Familie von Satmar-Chassiden in Williamsburg, New York, mit einem strengen Verhaltenscodex auf. Welchen Einfluss hatten ihre Eltern, Großeltern und die Umgebung, in der sie aufwuchs? Um sie und ihre Werke zu verstehen, ist die Frage zu ihrer Herkunft bedeutend.

Feldman ist Tochter einer Mutter, die die Satmar Gemeinde, ihren Ehemann und ihre damals sieben Jahre alte Tochter verließ, um mit einer Frau in Freiheit leben zu können. Feldman ist auch die Tochter eines Mannes mit geistiger Behinderung. Mit ihm verbindet sie als Kind ein Gefühl von Scham. Feldmans Großeltern emigrierten 1949 in die USA und schlossen sich dem aus Ungarn stammende religiösen Bund "Kahal Jetew Lew d´Satmar" an, der 1948 in den USA wiedergegründet wurde.
Wegen der Trennung ihrer Eltern und Abwendung ihrer Mutter von den Satmar Chassiden, erlebte sie sich als Kind und Jugendliche isoliert. Zuwendung erfuhr sie nur von ihrer ungarischen Großmutter, einer von dem Holocaust gezeichneten Überlebenden. Die Tage verbrachte sie in einer religiösen Mädchenschule, "mit Gebeten und dem Lernen von Haushaltsvorschriften, mit Stricken, Kochen, Nähen."

Die Shoah, der Mord am jüdischen Volk, wird von den Satmar-Chassiden als Strafe für "Sünden" beziehungsweise für eine mangelnde Frömmigkeit gesehen. In der ultraorthodoxen abgekapselten Religionsgemeinschaft gab es für die Shoah keinen Gedenktag, weil es, wie Feldman in ihrem Buch schreibt, das Leid "unserer überlebenden Familienmitglieder in einem formalisierten Ritus versteinern" würde. Satmarer ignorieren Yom HaZikaron HaShoah V´haGevurah, den israelischen Tag des Gedenkens an die Shoah und an die Heldenhaftigkeit jüdischer Untergrundkämpfer.
Die Ultraorthodoxie lehrt und verbreitet auch eine antizionistische Einstellung und eine Infragestellung der Existenzberechtigung des Staates Israel. So schreibt Feldman, dass Satmar-Juden nicht nach Jerusalem reisen, weil "der Messias noch nicht gekommen" ist und dass"nur der Messias das Recht hat, einen jüdischen Staat zu gründen."

"Zugehörigkeit erreicht man nur, indem man sich von etwas abgrenzt."

Empathie für den Staat Israel fällt der Autorin schwer, sie lehnt das Land kategorisch ab. Nicht hinnehmbar jedoch ist die Behauptung der Schriftstellerin, dass am Shoah-Gedenktag Überlebende in der Gedenkstätte Yad Vashem in Zeitzeug*innengesprächen vorgeführt, benutzt, gar genötigt werden, zu sprechen. Das jiddische Wort "Dermannnen", das für Erinnern steht, zieht Feldman dem deutschen Wort Gedenken vor, für sie enthält letzteres ein Stück weit "Zwang, sei es von Innen oder von Außen". Sie nimmt die israelische Form des Gedenkens als "Performance" wahr, als einen formalisierten, kultischen Brauch, der sie emotional und körperlich "erstarren" lässt. Es fehlt ihr ein Stück weit ein Bewusstsein und Empathie dafür, dass Erinnerung aus der Perspektive der Betroffenen und deren Familien identitätsstiftend sein kann. Dass Deborah Feldman allen israelischen Enkelkindern von Shoah-Überlebenden eine Hinwendung zum Fanatismus bescheinigt, führt zu der Frage, wie sie derart lebensferne Schuldzuschreibungen heute noch vertreten kann.

Sprache und Sprachgebrauch

Deborah Feldman war 23 Jahre alt, als sie mit ihrem vierjährigen Sohn Isaac ihren Ehemann und die fundamentalistische chassidische Gemeinde heimlich verließ. Sie lebt seit acht Jahren in Berlin. Feldman, die in ihrer Kindheit ein bilderreiches Jiddisch sprach, das ein Bestand an althebräischen, aramäischen und mittelhochdeutschen Wörtern umfasst, lernte in ihrer Jugend biblisches Hebräisch zu sprechen, was, so Feldman, "mit der zionistischen Sprache kaum etwas zu tun zu haben schien." Autodidaktisch brachte sich Feldman nach ihrem heimlich geplanten, schrittweisen Entkommen durch den Besuch von Literatur Vorlesungen in New York Englisch bei. In Berlin erlernte sie die Sprache ihrer deutsch-jüdischen mütterlichen Herkunftslinie.
Feldman versuchte, ihrer ethnischen und kulturellen Identität zu entkommen, möchte jedoch einerseits "nah an der jüdischen Welt sein und zugleich doch sehr weit von ihr weg" sein. In Deutschland erlebt Feldman jüdische Identität als einen Fetisch, von dem erwartet wird, dass Jud*innen projektive Bildvorstellungen reaktiv bedienen sollen.

"Entrée-Billett"

Noch in New York traf Feldman auf "Neu-Deutsche-Juden" aus Berlin und war von ihnen zunächst beeindruckt. Ein Wirkungskreis, der sie mit offenen Armen aufnahm und dem sie beizeiten den Rücken kehrte. Sie kritisiert konvertierte Juden und Jüdinnen pauschal und unmissverständlich. Sie fragt sich in puncto "Kostümjuden", weshalb "Jüdischsein heutzutage etwas sein kann, worum Menschen sich so emotional und verzweifelt bemühen." Ihre Sprache ist unverblümt, direkt, und scharf: "Das Einzige, was ich aus der Geschichte herleiten kann, ist die ungeheure Ironie eines Judenscheines, der vorher einen Menschen in höchste Gefahr brachte und heute wie eine VIP-Karte funktioniert..."

Feldman will ein moralischer Kompass sein, hierbei bedient sie einen Voyeurismus in Deutschland

Feldman, eine in Deutschland erfolgreiche Autorin, arbeitet sich an diversen bekannten, intellektuellen Literat*innen und Publizist*innen ab, die sich seit Jahren in Deutschland zu politikbezogenen Fragen äußern. Sie überzieht die in der deutschen Kultur- und politischen Landschaft angesehenen jüdischen Repräsentant*innen mit Häme, bedient hierbei altbekannte antisemitische Klischeebilder, die sie in ihrem Buch sogar selbst kritisiert: "Doch deutsche Zeitungen geben sich gerne für so ein "Catfight" her: wenn Juden sich gegenseitig öffentlich zerfleischen, wird damit nicht jedes unterschwellige Klischee über Juden bedient?"

"Papierjuden"

Feldman belächelt und bewertet Menschen jüdischer Herkunft, die in der Sowjetunion mit einer atheistischen Staatsdoktrin sozialisiert wurden und bezeichnet sie als "Papierjuden": "Menschen, die irgendwelche Scheine hatten, worin ihr Judentum belegt war."

Sie verkennt, dass Jude-Sein nach amtlich sowjetischer Auffassung als Ethnie interpretiert und im Gegensatz zur Halacha auch durch die männliche Vorfahren-Linie tradiert wurde. Im sowjetischen Pass stand der Paragraph 5, der auf die Nationalität "Jewrej" = jüdisch hinwies. Dieser Passus war oft ein Karrierehindernis in der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken. Sie unterschätzt, dass es vielfach in den GUS-Staaten kaum offizielle Kenntnis über die massenhafte Vernichtung der jüdischen Bevölkerung gab. In den Schulen standen im Geschichtsunterricht Heldentaten gegen die faschistische deutsche Besatzung im Vordergrund.
Die kommunikative Verknüpfung der Großeltern-Eltern-Generation zu den nach dem Mord am jüdischen Volk Geborenen wurde teilweise nahezu unterbrochen. Aufgrund der in der UdSSR seit 1948 erfahrenen Repressalien als jüdische Minderheit, war es ihnen oft nicht möglich jüdische Tradition und Kultur – religiös oder säkular – offen zu leben, allenfalls in den Familien. Synagogen waren entheiligt, zum Beispiel als Sportstätten oder Schwimmbäder genutzt. Auch wenn Judentum in einigen Familien nicht ausdrücklich ausgeübt wurde, gab es noch Spuren der Weitergabe des Jüdischen, erleben sich Nachfahren heute als Teil einer historischen Kontinuität.

Es fehlt Feldman hier an Verständnis, dass diese Generation aus den ehemaligen GUS-Staaten kommend, Judentum erst nach und nach mit neuem Leben füllen muss. Etwa 220.000 Juden und Jüdinnen immigrierten ab 1991, darunter etliche mit ihren nichtjüdischen Familienangehörigen, aus der Sowjetunion und den postsowjetischen Staaten nach Deutschland.

Rufschädigung durch Fehlinformation

Deborah Feldman verbreitet ohne Angabe einer seriösen Quellenangabe in ihrem Buch "Judenfetisch" aufgeschnappte Mutmaßungen als ungeheuren Fakt: Es "strömten unzählige jüdische Flüchtlinge nach Berlin. ... Die Gemeinde Chabad, eine messianische Sekte mit Standorten überall in der Welt, die sich mit der Fürsorge um ´verlorene´ Juden beschäftigt, quartierte sie im Austausch für ihre Sozialhilfegelder, wie mir Flüchtlinge später erzählten, in den Hotels am Kurfürstendamm ein."

Hierzu befragt, sagt Yehuda Teichtal, Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Chabad, einer Denkweise innerhalb des Judentums, "orthodox und offen": "In unserer Obhut befinden sich einige hundert ukrainische jüdische Waisenkinder mit ihren Betreuern und auch Jungen und Mädchen mit ihren alleinerziehenden Müttern."

Ab Januar 1991 konnten Juden aus der Sowjetunion als "jüdische Kontingentflüchtlinge" – aufgrund eines gesetzlich geregelten Aufnahmeverfahrens der ersten gesamtdeutschen Ministerkonferenz – in das vereinigte Deutschland einwandern. Die ukrainischen Flüchtlinge haben aus humanitären Gründen auch den Status von Kontingentflüchtlingen erhalten. Empört ist Rabbiner Teichtal über die Unterstellung und Verleumdung Feldmans, Sozialhilfegelder von Flüchtlingen im Tausch für eine Unterbringung angenommen zu haben.

AVIVA-Tipp: "JUDENFETISCH" ist ein autobiographisches Resümee und für Feldmans Followers und Fans sicher ein bühnengerechter Unterhaltungsstoff. Für mich eine nicht erhellend tiefergehende Lektüre, die ob der vielen Verzerrungen zwiespältige Gefühle hervorruft.

Zur Autorin: Deborah Feldman wurde 1986 in New York geboren und wuchs bei ihren Großeltern, Holocaust-Überlebenden aus Ungarn, in der chassidischen, streng religiösen Satmarer-Gemeinde in Williamsburg / Brooklyn auf. Ihre Muttersprache ist Jiddisch. Während sie eine religiöse Mädchenschule besuchte, um auf ihr Leben als Ehefrau und Mutter vorbereitet zu werden, studierte sie heimlich am Sarah Lawrence College in New York Literatur und brach schließlich aus der Gemeinde aus. Ihre autobiografische Erzählung "Unorthodox" wurde in 25 Sprachen übersetzt und 2020 von Maria Schrader verfilmt und mit einem Emmy ausgezeichnet. "Überbitten. Eine autobiografische Erzählung" (Originaltitel: Exodus) erschien 2017.
Deborah Feldman lebt seit 2014 mit ihrem Sohn in Berlin.
Mehr Infos zu Deborah Feldman unter: www.deborahfeldman.de (Quelle: Verlagsinfos)

Deborah Feldman
Judenfetisch

Luchterhand Verlag, erschienen 30. August 2023
272 Seiten, gebunden
24 Euro
Mehr zum Buch unter: www.penguin.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin

Deborah Feldman - Überbitten. Eine autobiografische Erzählung
Die Literaturkritikerin und Autorin für Literatur- und Feature-Redaktionen des Hörfunks Sigrid Brinkmann hat sich für das Bayern 2-Büchermagazin "Diwan" erneut mit der Frau getroffen, deren 2016 erschienene Autobiographie "Unorthodox" auf Anhieb zum New York Times-Bestseller wurde. (2017)

Deborah Feldman – Unorthodox
Die Literaturkritikerin und Autorin für Literatur- und Feature-Redaktionen des Hörfunks Sigrid Brinkmann hat sich mit der Frau getroffen, deren Autobiographie auf Anhieb zum New York Times-Bestseller mit einer Millionenauflage wurde. Deborah Feldman, in der ultraorthodoxen Gemeinde in Brooklyn aufgewachsen, hat diese Erfahrungen in ihrer autobiographischen Erzählung "Unorthodox" verarbeitet. (2016)

Zur Autorin: Nea Weissberg, geboren 1951 in Berlin als Tochter polnischer Juden_Jüdinnen und Shoah-Überlebender. Sie ist Pädagogin, Autorin, cand. Director of Psychodrama am "Isis Israel". Sie gründete 1993 den Lichtig Verlag, in dem sie Literatur zur jüdischen Gegenwart und Geschichte, zum Thema Zweite Generation nach der Shoah und dem Leben als Mutter einer Tochter mit Behinderung herausbringt.



Literatur

Beitrag vom 26.09.2023

Nea Weissberg