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Beitrag vom 02.08.2023
Angela Steidele: In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margarethe Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721
Ahima Beerlage
Schon einmal hat sich Angela Steidele mit der Geschichte der außergewöhnlichen Person Catharina Margarethe Linck, die große Teile ihres Erwachsenenlebens als Anastasius Lagrantinus Rosenstengel verbracht hat, beschäftigt. In ihrem Roman "Rosenstengel – Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwig II."…
…von 2015 gibt sie den Briefwechsel zwischen dem "Märchenkönig aus Bayern" mit dem Arzt Franz Carl Müller und weiteren Personen aus dem Umfeld des Königs zum Fall Rosenstengel wieder. Stand in ihrem früheren Roman die Reaktion der Beteiligten auf Linck im Vordergrund, widmet Angela Steidele ihre neue Biographie allein dem Leben von Catharina Margarethe Linck, alias Anastasius LagrantÃnus Rosenstengel.
Dabei stützt sie sich vor Allem auf die Gerichtsakten, die zur Hinrichtung Lincks geführt haben. Steidele stellt dabei nicht nur die brisante Geschichte Lincks alias Rosenstengel vor, sie zeichnet auch sorgfältig recherchiert ein Bild der Zeit Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts.
Catharina Linck wird 1687 als uneheliche Tochter eines Soldaten und einer unverheirateten Marketenderin in Thüringen geboren. Anfangs gelingt es der Mutter durch Heirat mit einem Wollweber ihre Tochter und sich durchzubringen. Doch ihr Ehemann stirbt früh und sie verarmt so sehr, dass sie sich zeitweise prostituieren muss. Einen Ausweg aus ihrer Armut bietet sich, als der evangelische Theologe August Hermann Francke Pastor in ihrer Heimatstadt Glaucha wird. In der für ihren Alkoholausschank berüchtigten Stadt gründet er eine Stiftung für Waisenkinder. Catharinas Mutter bekommt eine Stelle als Hauswirtschafterin, die sie jahrzehntelang innehaben sollte. Das kleine Mädchen wird ins Waisenhaus aufgenommen und erhält eine stark evangelisch-religiös ausgerichtete Schulbildung. Das Leben in diesem strengen Haus wird ihr bald zu eng. Sie geht in die Lehre bei einem Knopfmacher und Kattundrucker. Diese handwerklichen Fähigkeiten sollten ihr später im Leben nützlich sein. Doch sie wechselt den Lehrherren. Mit sechzehn verläßt sie auch diese Stelle mit leichtem Gepäck und verschwindet, um wenig später unerkannt die Kleider zu tauschen. Sie lebt ab jetzt in Männerkleidung.
Steidele schreibt. "Vor Gericht nannte sie zwei Gründe für ihren Kleidertausch: Zum einen habe sie keusch leben wollen, zum anderen hätten das ´ja mehr WeibsLeuthe gethan.´" . Catharina Linck war also kein Einzelfall. Immer wieder, so Steidele, haben sich viele Frauen von der Antike bis in die Neuzeit Männerkleider angezogen und/oder als Männer gelebt. Die Motive dafür sind so vielfältig wie die Personen. Ein Motiv überwiegt aber: Viele Frauen versuchten so der Armut zu entfliehen. Als Männer standen ihnen Berufe offen, die Frauen verboten waren. Sie hatten Rechte, die Frauen verwehrt waren und sie hatten die Möglichkeit, Arbeitsplatz und Aufenthaltsort frei zu wählen.
Auf der Suche nach Rechtfertigung - Flucht in die Mystik
Catharina Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel war geprägt von der streng religiösen Erziehung und suchte nach Rechtfertigung ihrer/seiner Existenz. In den radikalpietistischen Gemeinden, die sich vom strengen Rationalismus der Reformierten durch den eher emotional-mystischen Zugang zu Gott absetzten, fand Anastasius eine neue Heimat. Sie war fasziniert von Jakob Böhmes und seiner mystischen Sophien Lehre. "Danach wurde der Mensch androgyn erschaffen; erst durch den Sündenfall verlor der Mann seine Weiblichkeit." Catharinas Daseinsform kam diese Lehre entgegen. In dieser Zeit stritten die katholische Kirche und die verschiedensten Strömungen der Reformierten um jede Seele, klagten sich auch gegenseitig der Ketzerei an. Catharina zieht eine Weile mit den prophetischen Predigenden durch die Lande, muss ein paar Mal mit ihnen vor dem Zorn der Bevölkerung fliehen, wenn ihre Prophezeiungen nicht eintreffen oder gar spektakulär scheitern.
Kampf ums Überleben – Wechsel der Identitäten
Aber auch in diesem Leben findet sie keine Erfüllung. Anastasius wird Söldner, Soldat, wechselt die Seiten. Nach sechs Jahren quittiert sie den Dienst. Ein wechselvolles und turbulentes Leben beginnt. Mal lebt sie als Mann, als sie aber zwangsrekrutiert werden soll, wieder als Frau, hält das nicht lange aus, lebt wieder als Mann. Anastasius/Catharina ist häufig gezwungen, sich mit List und Tücke Lebensunterhalt und Unterkunft zu ergattern. Dabei kommt ihr der Missionswille der verschiedenen Religionsströmungen entgegen. Gern gibt sie sich als unglückliche Gläubige aus, die sich mit materieller Unterstützung und Unterweisung gern auf ein neues Bekenntnis Taufen lassen will. Eifrige Priester und Pastoren geben ihr Quartier und Kost bis zu ihrer Taufe. Allein vier Mal wechselt sie das Bekenntnis und die Taufe. Im Prozess gegen sie wiegt das fast schwerer als ihre gleichgeschlechtliche Ehe.
Tödliche Mimikry – Hochzeit mit einer Frau
In Halberstadt arbeitet Anastasius bei einem Strumpfhersteller und lernt in der Nachbarschaft Catharina Mühlhahn kennen, die wie Anastasius aus kleinen Verhältnissen stammt. Sie werden ein Liebespaar und lassen sich sogar kirchlich trauen, ohne dass der Pfarrer ahnt, wer da vor ihm steht. Die Mutter der Braut aber ist misstrauisch und verlangt zum Beweis, dass Rosenstengel seine Genitalien zeigt. Lange kann Anastasius sich herausreden. Das Paar bleibt arm und Rosenstengel verkauft nach und nach die Aussteuer seiner Frau, deren Mutter noch aufgebrachter wird. Die Streitigkeiten eskalieren, bis sich die Mutter Verstärkung aus der Nachbarschaft holt und Rosenstengel in einem Handgemenge entblößt und enttarnt wird. Die Mutter läßt Rosenstengel/Linck verhaften. Was sie nicht eingeplant hat: Auch ihre Tochter gerät ins Fadenkreuz der Justiz. Beide Frauen werden verhört und angeklagt. Linck streitet nichts ab. Ihre Gattin aber versucht sich zu retten, indem sie die Unschuldige spielt. Sie habe nicht geahnt, dass Rosenstengel eine Frau ist. Sie verstrickt sich in Widersprüche und gesteht unter Androhung der Folter, Sex mit einem Dildo gehabt zu haben. Das wird hart gegen Catharina Linck ausgelegt. In einem komplizierten Verfahren und unterschiedlichen Expertisen wird sie zu Kerkerhaft verurteilt. Der König, die letzte absolutistische Instanz, fordert aber ihren Tod. Und so wird Linck alias Rosenstengel hingerichtet.
Lesbisch, trans, queer? – Geschichte und Perspektive
Angela Steidele wirft am Ende die Frage auf "Lesbisch, trans, queer?" und folgt dabei unterschiedlichen Theorien, die auf faszinierende Weise bei gleichen Fakten zu unterschiedlichen Bewertungen führen. Dabei weist sie nach, dass eigentlich eine Kategorisierung der historischen Person nicht legitim ist. Sie schreibt "Catharina Linck lebte in der Spätphase der Frühen Neuzeit, einer Zeit, in der die Identität eines Menschen immer noch wesentlich von seinem Stand bestimmt wurde. Ihre Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen und ihre uneheliche Geburt waren Faktoren, die ihr Selbstverständnis wesentlich mehr geprägt haben als ihr Geschlecht und ihr Begehren."
AVIVA-Tipp: Angela Steidele hat in ihrem Buch nicht nur die historischen Quellen ausgewertet. Sie hat ein faszinierendes Zeitporträt einer ungewöhnlichen Person gezeichnet. Damit hat sie nicht nur die Person Linck/Rosenstengel wieder sichtbar und erfahrbar werden lassen. Sie hat das Augenmerk der Lesenden darauf gerichtet, dass es neben Sexualität und Identität auch ökonomische und religiöse Bedingungen gibt, die unser Handeln und Denken beeinflussen. Und noch viel entscheidender: Es ist nicht legitim, die Schicksale von Menschen aus früheren Zeiten für die eigenen zeitgenössischen Interessen zu instrumentalisieren. Ein spannendes und erhellendes Buch.
Zur Autorin: Angela Steidele geboren am 18. Dezember 1968 in Bruchsal, ist eine Autorin, die sich in Sachbüchern und Romanen mit historischen Frauengestalten beschäftigt, die Frauen geliebt haben. Dabei lotet sie das Spannungsfeld zwischen Geschichte und Gegenwart aus, indem sie historische Quellen des recherchiert und auswertet. Bücher wie "Geschichte einer Liebe: Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens" (2010), "Anne Lister. Eine erotische Biographie" (2017), "Zeitreisen" (2018), "Poetik der Biographie" (2019 und "Rosenstengel "(2015) haben ihr nicht nur eine breite Leser*innenschaft eingebracht, sondern sie wurde auch mit vielen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Bayrischen Buchpreis und dem Klopstock-Preis.
Angela Steidele
In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margarethe Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721
Insel Verlag, deutsche Erstausgabe erschienen 1. November 2021
‎Gebunden, 326 Seiten
ISBN: ‎ 978-3458179450
€ 24,00
Auch als E-Book erhältlich
Mehr zum Buch und aktuelle Lesungsterminen unter: www.suhrkamp.de
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Angela Steidele – Zeitreisen. Vier Frauen, zwei Jahrunderte, ein Weg
Im zweiten Teil ihrer Trilogie zum biographischen Schreiben tritt Angela Steidele mit ihrer Frau Suzette in die Fußstapfen von Anne Lister und deren Frau Ann Walker. Von Yorkshire via Russland in den Kaukasus und bis zum Schwarzen Meer reisen sie. Steidele stellt ihren Reisebericht dem von Anne Lister gegenüber – oftmals in einer erschreckenden Parallelität. (2019)
Angela Steidele - Poetik der Biographie
In ihrer höchst lesenswerten "Poetik der Biographie" untersucht die begnadete Biographin Angela Steidele ("Anne Lister", "Geschichte einer Liebe") die Charakteristika, Merkmale und Notwendigkeiten ihres eigenen Genres. Ist die Biographie reines Handwerk, Kunst oder gar Wissenschaft? Und was soll sie leisten: reine Fakten oder unterhaltsame Lektüre? (2019)
Angela Steidele - Anne Lister. Eine erotische Biographie
Die mehrfach ausgezeichnete Autorin Angela Steidele ("Geschichte einer Liebe – Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens") beschenkt uns mit einer höchstamüsanten Lektüre: der Lebensgeschichte Anne Listers, eine Frauenheldin, Lüstlingin und Heiratsschwindlerin des beginnenden 19. Jahrhunderts. Schon das Layout dieses Buches, das im großartigen Verlag Matthes & Seitz erschien, lässt uns … nun ja, zugreifen. (2017)
"Angela Steidele - Geschichte einer Liebe. Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens"
Die Leserin erfährt in diesem Buch von Frauenlieben und -beziehungen und davon, dass es sich nicht um singuläre Phänomene handelte, "zu einer Zeit, als es Liebe zwischen Frauen offiziell gar nicht geben durfte". (2010)