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Beitrag vom 03.05.2023
A.L. Kennedy: Als lebten wir in einem barmherzigen Land
Bärbel Gerdes
Der Brexit und die Pandemie sind zwei Krisen, die Großbritannien durchstehen muss. In ihrem höchst spannenden, ironischen und von Wut durchtränkten Roman zeigt A.L. Kennedy, dass dies nicht die einzigen Probleme sind, die das Land hat. Umso erstaunlicher, dass die Erzählerin der Geschichte dem dennoch Hoffnung entgegensetzt.
Im Spannungsfeld zweier Personen entfaltet A.L. Kennedy ihren vielschichtigen Roman: Anna Louisa McCormick, eine engagierte Grundschullehrerin an der Oakwood School, Mutter eines Sohnes, vorsichtig Liebende, in den 1980er Jahren Mitglied des Unrule OrKestrA, einem politischen Straßentheater und Albert Lockwood oder Tom Stott oder einfach Buster, der sich als V-Mann der Behörden in die Gruppe einschlich und sie verriet.
Es ist das Jahr 2020. Der Brexit ist Realität und die Pandemie durchschüttelt die Welt. Anna erzählt uns, wie das ist als Lehrerin: sie unterrichtet ihre FünfklässlerInnen per Fernunterricht und versucht sie aufzumuntern so gut es eben geht. Sie nimmt die Hintergründe auf den Bildschirmen wahr, die Stimmungen der Kinder, ihre Ängste und Sehnsüchte.
Sie nimmt aber auch wahr – und zwar äußerst aufmerksam – was in ihrem Land passiert. Sie erzählt von den Ungerechtigkeiten, der Armut, dem zynischen Reichtum einiger weniger, der verlogenen, zur Clownerie verkommenen Politik.
Und Anna erinnert sich: an die Thatcher-Jahre, die Privatisierungen und deren Folgen, an den Spaß am Straßentheater, an sich als Annanka Ladystrong - und an den großen Verrat, den sie nie ganz verwunden hat. Genauso wenig wie die Vergewaltigung, die sie als junge Studentin erlebte und die sie uns nun erzählt, unser Unbehagen berücksichtigend: Ich weiß, dass Sie nicht hier sein und zwischen die Fronten und Zäune geraten wollen. Ich auch nicht. Aber wir stecken jetzt zusammen in dieser Sache.
Doch auch Buster erzählt. Er hat Anna ein Manuskript vor die Tür gelegt. Eine Beichte? Ein Lebensbericht? Eine Erklärung?
Genialerweise werden diese beiden Erzählstränge von zwei unterschiedlichen Personen übersetzt: während Susanne Höbel die harte Sprache Busters wiedergibt, übernimmt Ingo Herzke, der bislang alle Romane Kennedys übertrug, Annas Part. Dieser changiert lebhaft vor den Augen der Leserin. Er wechselt von der Pandemierealität zu G7-Treffen in Schottland 2015, dem brutalen Vorgehen der Polizei gegen DemonstrantInnen zu den berückenden Schilderungen des Straßentheaters in den 80er Jahren und von Annas Angst, sich auf eine neue Liebe einzulassen.
Buster hingegen berichtet von seinen Tätigkeiten als V-Mann und als Auftragskiller, ein eiskalter, präzise planender Mann, der vielleicht auch versucht, sich durch die Morde an Kinderhändlern und -vergewaltigern reinzuwaschen, was die Leserin in Dilemmata stürzen mag.
Erstaunlicherweise ist A.L. Kennedys Roman noch nicht im Land der Stilzchen, jenen Menschen, denen viel an Gold und Reichtum, aber nichts an den Menschen liegt, erschienen. Kein Verleger hat sich in Großbritannien für diesen entlarvenden, genialen und unterhaltsamen Roman gefunden (oder getraut?). Die deutsche Übersetzung ist die Weltpremiere. A.L. Kennedy begründe dies damit, dass der Roman zu kritisch sei und man in Großbritannien schmerzfrei über die Weltgeschichte nachdenken wolle, so rbb-online.
Damit die Stilzchen nicht gewinnen, setzt Kennedy ihnen ihre starke, politische, aufrichtige und liebenswerte Anna McCormick gegenüber, die auch eine Geschichte darüber erzählt wie normale Menschen ihr Leben und ihr Bestes tun, um es zu ihrem eigenen schönen und nützlichen Leben zu machen
AVIVA-Tipp A.L. Kennedys neuer Roman ist eine hochpolitische Abrechnung mit Großbritannien, aber auch ein berührender Roman über eine Frau, die sich gegen die Zu- und Umstände wehrt und die Hoffnung auf ein barmherziges Land nicht aufgibt. Eine uneingeschränkte Leseempfehlung!
Zur Autorin: Alison Louise Kennedy wurde 1965 in Dundee, Schottland, geboren und studierte Theaterwissenschaft im englischen Coventry. Ihr erster Roman Bliss erschien 1998 (dt. "Gleißendes Glück", 2000). Seitdem veröffentlichte sie unter dem Namen A.L. Kennedy zahlreiche Romane und Erzählungen, darunter The Blue Book (2011, Deutsch u.d.Titel: Das blaue Buch, 2012), Serious Sweet (2016, Süßer Ernst, 2018) und der Essayband On Writing (2013, Schreiben, 2016). A. L. Kennedy trat als Stand-Up-Comedian auf Literaturfestivals auf und schreibt Kolumnen für The Guardian. Seit 2007 ist sie Associate Professor in Creative Writing an der Universität Warwick. Ihre Werke wurden mit zahlreichen Preisen gewürdigt, darunter 1994 den Somerset Maugham Award, 2007 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2016 den Heinrich-Heine-Preis. 2017 wurde sie in die Berliner Akademie der Künste aufgenommen. A.L. Kennedy lebt in Wivenhoe, Essex.
Mehr zur Autorin: www.a-l-kennedy.co.uk
Zum Übersetzer: Ingo Hertzke wurde 1966 in Alfeld geboren. Nach dem Studium der Klassischen Philologie, Anglistik und Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen und der University of Glasgow wurde er 2000 durch die Übersetzung von Gleißendes Glück von A.L. Kennedy bekannt. Alle ihre Werke bis auf eines sind von ihm ins Deutsche übersetzt worden. Zudem übersetzte er u.a. Paula Fox, Edward St Aubyn und A.M. Homes ins Deutsche. Hertzke wurde mehrmals mit dem Hamburger Förderpreis für Übersetzer ausgezeichnet sowie mit dem Preis der Jugendjury des Deutschen Jugendliteraturpreises. Er lebt in Hamburg.
Zur Übersetzerin: Susanne Höbel wurde 1953 in Unna geboren und studierte in Birmingham. Seit mehr als dreißig Jahren arbeitet sie als Übersetzerin englischer und amerikanischer Literatur, darunter Graham Swift, Margaret Foster und William Faulkner. Ihre Übersetzungen wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Höbel ist Mitglied der Jury der Ledig-Rowohlt-Stiftung und im Beirat der Zeitschrift Übersetzen.
A.L. Kennedy
Als lebten wir in einem barmherzigen Land.
Originaltitel: We Are Attempting To Survive Our Time
Aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel.
Hanser Verlag, erschienen am 20. März 2023
464 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-446-27624-6
28,00 Euro
Mehr zum Buch und Lesungstermine unter: www.hanser-literaturverlage.de
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In ihrem großartigen London-Roman hält die schottische Schriftstellerin A.L. Kennedy der britischen Gesellschaft einen glasklaren Spiegel vor. Geschrieben vor dem Brexit, entlarvt sie die Kälte und den Zynismus der Londoner Politik, die die Gesellschaft zu zerreißen droht. (2019)
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A.L.Kennedy - Was wird
Gewaltbeziehungen, missglückte Affären und einsame Singles, - in ihrem Buch "Was wird" zeigt die schottische Autorin Momentaufnahmen von Menschen, für die "Erfüllung" ein Fremdwort ist. Die HeldInnen der zwölf Kurzgeschichten sind Menschen, die sich in ihrem Unglück eigerichtet haben – weil sie trotz ihrer Sehnsüchte nach einem besseren Leben keine Alternativen sehen. (2009)