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Beitrag vom 26.07.2022
Ruth Klüger - weiter leben
Sharon Adler
Bereits im Jahr seines Erscheinens im Jahr 1992 erreichte die Literaturwissenschaftlerin mit ihrem autobiografischen Roman "weiter leben. Eine Jugend" die Aufmerksamkeit auch einer nicht-jüdischen Leser*innenschaft. Seitdem wurden die Aufzeichnungen der Shoah-Überlebenden in zehn Sprachen übersetzt.
Es ist vor allem ihre besondere Sprache, mit der sie das Grauen schildert, das sie in den Lagern erlebt hat und auch das Trauma das Überlebens, das sie nie mehr loslassen soll. Immer wieder hat sie das Mittel der Sprache genutzt, um in ihren Werken das Unfassbare, das Unaussprechliche in Worte zu kleiden. "weiter leben. Eine Jugend" erzählt eben von dieser Jugend, die keine ist, die von den Nazis systematisch zerstört wird. Ruth Klüger, die keinen Zweifel darüber zulässt, dass die Nazis im Wien ihrer Kindheit nicht nur Uniformtragende SS-Männer waren, sondern die Nachbar*innen, die Englischlehrerin, die Bäckerin samt Bäckerstochter schildert rückblickend beinahe lakonisch, dass sie ihre ersten Lesekenntnisse an judenfeindlichen Schildern geübt habe, die allerorten "Juden und Hunden" den Eintritt in Geschäfte, in Kinos, in das Schwimmbad verwehrten.
Ruth Klüger: "Dieses Wien, aus dem mir die Flucht nicht geglückt ist, war ein Gefängnis, mein erstes, in dem ewig von Flucht, das heißt vom Auswandern, die Rede war."
Dem Vater, dem die Flucht, aber nicht das Überleben geglückt ist, wird Ruth Klüger später in jüdischer Tradition die Jahrzeitlichter anzünden und ihm Gedichte auf Deutsch und auf Englisch schreiben. "Alles, um wegzudenken, um abzulenken."
Sehr viel später, 1962, als Ruth Klüger im Exilland Amerika, in Berkeley, beginnt Germanistik zu studieren, holen die "Gespenster" der Vergangenheit sie wieder ein, werden ihre Erinnerungen auf sie "eindringen, einschlagen", "dadurch, dass ich wieder anfing, deutsch zu sprechen."
In ihren Aufzeichnungen unterwirft Ruth Klüger sich keinem chronologischen Rahmen, vielmehr lässt sie sich die Freiheit, ihre Gedanken und Erinnerungen durch die Zeiten wandern zu lassen. So sind es ihre Beobachtungen vom "Volk der Touristen, das heute nach München strömt", um dort am Marienplatz "die putzigen Holzpuppen zu bewundern" um dann von dort "nach Dachau zu den Baracken" zu fahren, weil es sich eben räumlich anbietet.
Und es ist immer wieder die Zeit, die sie in Theresienstadt, in Auschwitz, und in Groß-Rosen gemacht hat, die Zeit der Flucht, die Zeit des Verstecks, die Zeit der Verzweiflung und der Hoffnung, über die sie schreibend nachdenkt.
AVIVA-Fazit: "Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung", fordert Ruth Klüger die nichtjüdischen Leser*innen in weiter leben auf. Auch und gerade 30 Jahre nach seinem Erscheinen hat diese Aufforderung nichts von seiner Dringlichkeit verloren.
Zur Autorin: Ruth Klüger wurde am 30. Oktober 1931 als Tochter jüdischer Eltern in Wien geboren. Im Alter von zwölf Jahren wurde sie gemeinsam mit ihrer Mutter in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, ein Jahr später nach Auschwitz-Birkenau und in das Arbeitslager Christianstadt. Dort begann sie, Gedichte zu schreiben. 1947 emigrierte sie mit ihrer Mutter in die USA, studierte in New York Bibliothekswissenschaften und später an der University of California in Berkeley Germanistik, wo sie 1952 den M.A. Grad und 1967 ihren Ph.D. erhielt. Ruth Klüger war von 1966 bis 1992 Professorin für Deutsche Philologie an verschiedenen amerikanischen Universitäten, zuletzt an der University of California / Irvine. Von 1978 bis 1986 war sie Herausgeberin der Zeitschrift "The German Quarterly", von 1980 bis 1985 Vizepräsidentin der Internationalen Vereinigung der Germanisten (IVG). Sie war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Werke u.a.: "Zerreißproben. Kommentierte Gedichte", "Was Frauen schreiben", "Katastrophen. Über deutsche Literatur", "unterwegs verloren".
Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Prix Mémoire de la Shoah (1998), das Bundesverdienstkreuz erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland (2008), die Ehrendoktorwürde der Universität Wien (2015), und den Bayerischen Buchpreis – Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten (2016).
Im Mai 2009 wurde sie erste Gastprofessorin des Marcel Reich-Ranicki-Lehrstuhls für Deutsche Literatur an der Universität Tel Aviv. Ihr Thema: "Jüdische Autorinnen in der deutschsprachigen Literatur".
Seit dem 6. Mai 2022 gibt es in Wien einen Ruth-Klüger-Platz. Rund um die Platzbenennung fanden im Sinne der Erinnerungskultur vom 5. bis 7. Mai 2022 die Ruth-Klüger-Tage statt.
Ruth Klüger starb am 5. Oktober 2020 in Irvine, Kalifornien.
Ruth Klüger im Jewish Women´s Archive: jwa.org
Verlagsinfo
Kaum ein Buch war für die Geschichte des Wallstein Verlags von so herausragender Bedeutung wie Ruth Klügers Biographie "weiter leben – Eine Jugend" (1992). Seit Erscheinen wurden in Deutschland mehr als eine halbe Million Exemplare (inklusive Lizenzausgaben) verkauft. Das Buch wurde in zehn Sprachen übersetzt.
"Ein literarisch außerordentliches Buch. Ich bin der Ansicht, dass es zum Besten gehört, was in diesen letzten zwei, drei, vier Jahren in deutscher Sprache erschienen ist."
(Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett)
Ruth Klüger
weiter leben
Eine Jugend
Mit MP3-Hörbuch, gelesen von der Autorin
286 S., geb., Schutzumschlag
14,90 € (D); 15,40 € (A)
ISBN 978-3-8353-0298-3
Auch als eBook lieferbar.
Wallstein Verlag, erschienen 2008
Mehr zum Buch unter: www.wallstein-verlag.de
Ebenfalls bei Wallstein erschienen:
"Wer rechnet schon mit Lesern?"
Aufsätze zur Literatur
Hg. von Gesa Dane
256 S., geb., Schutzumschlag
24,00 € (D); 24,70 € (A)
ISBN 978-3-8353-3967-5
Auch als eBook lieferbar
Katastrophen
Ãœber deutsche Literatur. Erweiterte Neuauflage
256 S., geb., Schutzumschlag
19,90 € (D); 20,50 € (A)
ISBN 978-3-8353-0484-0
Auch als eBook lieferbar
Gelesene Wirklichkeit
Fakten und Fiktionen in der Literatur
222 S., geb., Schutzumschlag
22,00 € (D); 22,70 € (A)
ISBN 978-3-8353-0026-2
auch als eBook lieferbar
Gemalte Fensterscheiben
Ãœber Lyrik
252 S., geb., Schutzumschlag
22,00 € (D); 22,70 € (A)
ISBN 978-3-89244-490-9
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Ruth Klüger - Gegenwind. Gedichte und Interpretationen
In ihrem 2014 erschienenen Band "Zerreißproben. Kommentierte Gedichte" kommentierte und interpretierte die Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin, gefeierte Autorin, Feministin, Mutter, Großmutter, und Überlebende der Shoa Ruth Klüger ihre eigenen Verse über Gespenster, die sie heimsuchen. (2018)
Ruth Klüger - Marie von Ebner-Eschenbach. Anwältin der Unterdrückten
Zum einhundertsten Todestag von Marie von Ebner-Eschenbach hat die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger eine überaus kluge und zugleich mit spitzer Feder geschriebene Rede gehalten. Nachzulesen in der kleinen aber feinen Reihe "Autorinnen feiern Autorinnen". (2017)
Ruth Klüger - Zerreißproben. Kommentierte Gedichte
Sie ringt mit und um Sprache, von der sie permanent umringt wird: Die Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin kommentiert und interpretiert ihre eigenen Verse. (2014)
Das Weiterleben der Ruth Klüger. Ein Film von Renata Schmidtkunz
Renommierte Literaturwissenschaftlerin, gefeierte Autorin, Feministin, Mutter, Großmutter, Überlebende der Shoa. Die Dokumentation zeigt eine facettenreiche und beeindruckende Persönlichkeit beim Denken an verschiedenen Schauplätzen ihres Lebens und Wirkens." (2013)
Ruth Klüger - Was Frauen schreiben
Der weibliche Blick – Ruth Klüger widmet sich den Werken von Frauen aus aller Welt und verschiedenen Epochen. Ihre Zusammenstellung gewährt eine Sicht "aufs Leben durch anders geschliffene Gläser". (2010)
Interview mit Ruth Klüger
Ruth Klüger: Jüdin, Feministin, Mutter, Holocaust-Überlebende, emigrierte Wienerin, Wahl-Amerikanerin, Autorin und Literaturwissenschaftlerin hat in Deutschland und den USA als Germanistik Professorin gearbeitet. Im März dieses Jahres brachte sie die Aufsatzsammlung "Katastrophen. Über deutsche Literatur" erneut heraus, wodurch den LeserInnen eine neue Lesart klassischer Texte ermöglicht wird. AVIVA-Berlin führte mit der in Kalifornien lebenden Germanistin ein E-Mail Interview. (2009)
"Ruth Klüger – Katastrophen"
Großes Aufsehen erregte Ruth Klüger mit ihrem autobiografischen Roman "weiter leben. Eine Jugend", in dem sie ihre Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland und in mehreren Konzentrationslagern schilderte. (2009)
Ruth Klüger - unterwegs verloren
Vor sechzehn Jahren schrieb die emeritierte Literaturprofessorin den ersten Band ihrer Autobiographie, "weiter leben". Heute geht es für sie um Menschen, die "unterwegs verloren" gegangen sind. Ruth Klüger: Jüdin, Feministin, Mutter, Holocaust-Überlebende, emigrierte Wienerin, Amerikanerin und vor allem Liebhaberin der deutschen Literatur, hat den zweiten Band ihrer Lebensgeschichte veröffentlicht. (2008)