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Beitrag vom 26.04.2022
Ljudmila Ulitzkaja - Alissa kauft ihren Tod
Bärbel Gerdes
Es sind starke und es sind bemerkenswerte Frauen, die die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja in ihrem Erzählband vorstellt. Mit wunderbarer Ironie und sprachlicher Eleganz erzählt sie von den Wendungen des Lebens und von den Toten, die das Leben wenden.
Ausdauer, Raffinesse und eine gewisse Verschlagenheit benötigt Lidija, um ihr Ziel zu erreichen. Selbst ihre kostbaren Urlaubstage opfert sie – und sie hat richtig kalkuliert: der Mann beißt an.
Züü-rich ruft, die Stadt mit dem flötenden und fauchenden Namen …, wo es Keller voll Gold gab. Dass dann doch alles anders kommt als gedacht, bestimmt eben das Schicksal – und anders muss nicht unbedingt schlechter sein.
In Ulitzkajas Geschichten spielt eben jenes Schicksal eine große Rolle. Es wird viel gestorben – und Neues entsteht.
Sarifa und Mussja, die eine Armenierin, die andere Aserbaidschanerin, heiraten in den Niederlanden, überwinden liebend alle feindlichen Beziehungen ihrer Völker und sind das erste Ehepaar dieser Art aus Russland, das in Amsterdam geheiratet hat. Sarifa ist todkrank und regelt die letzten Dinge, während Mussja Kontakt zu zwei armenischen Hexen aufnimmt, um die komplizierte Operation eines Seelentauschs vornehmen zu lassen. Mussja möchte nicht alleine zurückbleiben.
Alissa, aus der titelgebenden Geschichte, wiederum hat Angst vor dem Alter, der Einsamkeit, vor Armut und einem Leben in Abhängigkeit. Sie möchte ihren Tod selbst bestimmen und sucht hierfür Unterstützung.
Selbst in ihren ausweglosen, in ihren angsterfüllten oder einsamen Lebenssituationen zeigt Ljudmilla Ulitzkaja Frauen, die selbstbestimmt ihr Leben lenken, sich von den Lebenswendungen weder einschüchtern noch resignieren lassen, sondern sie so nehmen, wie sie sind: als Ausgangspunkt zu etwas Neuem.
Die Intensität der Geschichten ist erstaunlich. Die Erzählungen ziehen die Leserin so tief in ihren Bann, als wären sie kleine Romane. Ulitzkaja versteht es, ihr Personal lebendig werden zu lassen. Wir hören die feste Stimme der einen Frau und das Lachen einer anderen, verfolgen voller Staunen die Unsicherheit des irakischen Studenten gegenüber russischen Frauen und sind gerne Gast beim feucht-fröhlichen Gelage dreier Freundinnen, die über ihre saufenden Männer herziehen und sich Wodka für Wodka neuen Zuständen und Erkenntnissen nähern.
Der Erzählband besteht aus den Zyklen Freundinnen, Vom Körper der Seele und Sechs mal sieben Miniaturen. Jeder wird von einem Gedicht eingeleitet. Das Gedicht Andere brauche ich nicht… ist ein Dank und ein Liebesbekenntnis an die Freundinnen, die selbst im Streit vereint blieben. Die Miniaturen sind kleine, manchmal fast schwebende Texte, manchmal sind sie Skizzen, als probiere die Autorin Themen aus.
Ulitzkajas Buch ist am 14. Februar 2022 in Deutschland erschienen. Nur zehn Tage später begann der russische Präsident Putin seinen mörderischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, in dem er jegliche Konventionen missachtet und ein ganzes Volk auslöschen will.
Einem neu erschienenen Buch folgen Lesereisen, Einladungen zu Presseinterviews, Messebesuche … Ljudmila Ulitzkaja ist eine sehr politische Schriftstellerin. "Ich schäme mich für uns alle, für unser Volk, das seine moralische Orientierung verloren hat, sagte Ulitzkaja – bereits 2014. Ulitzkaja stammt aus einer jüdischen Großfamilie, deren Mitglieder die Katastrophen der Zeiten erlebten: den Naziterror und den Stalinterror, Pogrome und Morde. Ljudmila Ulitzkaja hat stets ihre Stimme erhoben, auch gegen das gegenwärtige russische Regime.
Die Texte in diesem Erzählband sind nicht so offensichtlich politisch wie andere ihrer Texte. Natürlich wird sie auf Lesereisen nach ihrer Meinung zum Ukrainekrieg gefragt. Sie hat einen offenen Brief russischer Künstlerinnen und Künstler unterzeichnet, in dem der Krieg als Schande bezeichnet wird.
Die taz beklagt in einem Ende März 2022 erschienenen Artikel Die bekannte russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja gibt sich während des Ukrainekriegs in Berlin erschütternd unpolitisch, weil sie auf einer Lesung nicht in dem Maße Stellung bezieht, wie die taz-Journalistin Katharina Granzin es sich wünscht. Ihr Artikel liest sich wie ein einziger Vorwurf: Ulitzkaja habe eine Wohnung in Italien, in die sie sich zurückzieht, um Ruhe zu haben. Auch in einer der Erzählungen habe eine Protagonistin solch eine Wohnung und in einer anderen Geschichte möchte eine Protagonistin nicht mehr nach Moskau zurückkehren, da sie nun eine Ausländerin sei. Katharina Granzin folgert bissig: Ljudmila Ulitzkaja selbst aber hat ganz offensichtlich nicht vor, eine Ausländerin zu werden, sondern auch in Zukunft noch in Russland einreisen zu können, ohne verhaftet zu werden.
Diese wohlfeile Meinung, gewiss geschrieben in der Sicherheit eines warmen Büros, wurde übertitelt mit Rückzug ins innere Exil.
Ljudmila Ulitzkaja hat Russland wenige Wochen nach dem Kriegsbeginn verlassen.
Zahlreiche Interviews und Artikel in anderen deutschen Medien als der taz zeugen davon, wie sehr die Autorin seit Jahren und immer noch das russische Regime kritisiert.
AVIVA-Tipp: Die Unterschiedlichkeiten der Erzählungen zeigen, welch vielschichtige, fantasievolle und genaue Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja ist. Sie beobachtet das Leben und die Menschen und die Wendungen und Veränderungen, die beide nehmen, und baut daraus tröstende Texte.
Zur Autorin: Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie studierte Biologie und arbeitete ab 1967 als Genetikerin am Akademie-Institut in Moskau. Wegen der illegalen Abschrift und Verbreitung von Samisdát-Literatur wurde sie entlassen. Zwei Jahre verbrachte sie am "Jüdischen Kammermusiktheater", bevor sie sich als freischaffende Autorin und Publizistin etablieren konnte. 1983 wurde ihr erster Erzählungsband im Staatlichen Kinderbuchverlag veröffentlicht. 1992 wurde Ljudmila Ulitzkaja mit der Veröffentlichung von Sonetschka als Prosaautorin entdeckt, wofür sie 1996 den Prix Médicis erhielt. Im selben Jahr erschien auch ihre erste Erzählung in Deutschland. Ljudmila Ulitzkajas Bücher sind bereits in 17 Sprachen übersetzt worden. Sie lebt und arbeitet in Moskau.
Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Bei Hanser erschienen zuletzt Ergebenst, euer Schurik (Roman, 2005), Maschas Glück (Erzählungen, 2007), Daniel Stein (Roman, 2009) und Das grüne Zelt (Roman, 2012). 2009 erhielt sie für Daniel Stein den Alexandr-Men-Preis und wurde auf die Shortlist für den Man Booker International Prize 2009 gewählt, 2014 erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Österreichischen Staatspreis für Literatur.
Zur Übersetzerin: Ganna-Maria Braungardt, 1956 in Crimmitschau geboren, studierte Slawistik im russischen Woronesh. Sie übersetzte u.a. Swetlana Alexejewitsch, Maxim Gorki, Boris Akunin, Polina Daschkowa und Daniil Granin und alle Werke Ljudmila Ulitzkajas.
Ljudmila Ulitzkaja
Alissa kauft ihren Tod. Erzählungen
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Hanser Verlag, erschienen am 14. Februar 2022
304 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-446-26965-1
Euro 25,00
Zum Buch: www.hanser-literaturverlage.de
Unbedingt ansehen: Noch bis zum 13.6.2022 ist in der ARTE Mediathek die Dokumentation abrufbar:
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Die international erfolgreichste Autorin Russlands gibt Auskunft über ihr Leben, Denken und Schreiben – und über Politik und Kultur Russlands. (2015)