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Beitrag vom 13.03.2022
Olga Tokarczuk - Ãœbungen im Fremdsein. Essays und Reden
Bärbel Gerdes
Die polnische Literaturpreisträgerin Olga Tokarczuk zeigt in ihren Essays und Reden ein weiteres Mal, wie vielseitig interessiert, wie allumfassend denkend sie ist. Sie lässt uns beim Schreiben über ihre Schulter gucken, beschwört die wunderbare Macht des Lesens und ruft zu einem vernetzten Denken auf.
Es wirkt, als sei dieser Band aus einem Guss. Keine unzusammenhängenden Aufsätze oder Reden, kein hierhin und dorthin Springen. Es wirkt, als riefe Olga Tokarczuk uns dazu auf, sie beim unablässigen Prozess ihres Denkens zu begleiten, um uns dann unsere eigenen Gedanken zu machen. Über all dem könnte der Begriff Ognosie stehen, den sie prägt: ein ultrasynthetischer Erkenntnisprozess, in dessen Zuge Dinge, Situationen und Phänomene einer Reflexion unterzogen und so in ein höheres Sinngefüge der wechselseitigen Bedingtheit eingeordnet werden sollen. Eine Ognosiestörung läge dann vor, wenn die Welt nicht als integrale Ganzheit wahrgenommen würde. Die Ognosietherapie könnte dagegen helfen: die Heilmethode der Romanhandlung … (ambulant auch die mündliche Erzählbehandlung).
Tokarczuk schildert die Entzauberung der Welt und unser ratloses Davorstehen. Jeder Ort ist erkundet, jede Frage kann sekundenschnell im Internet beantwortet werden, Beziehungen mit Menschen, die wir nie gesehen oder gehört haben, sind möglich. Es sei wie eine Nachreisetrauer: wir kommen nach Hause, packen unsere Koffer aus und fragen uns, ob das nun alles gewesen ist.
Wohl zum ersten Mal in seiner Geschichte macht der Mensch diese eindringliche Erfahrung der Endlichkeit der Welt, schreibt sie. Diese Endlichkeit, dieses alles Wissen zerstört Phantasie und Vorstellungskraft. Das Gefühl der Endlichkeit banalisiert alles, denn nur das, was sich unserer Erkenntnis entzieht, kann unsere Begeisterung wecken.
Dies hat auch Konsequenzen auf die Literatur: neue Medien ermöglichen die Produktion unendlicher Texte. SchriftstellerInnen werden als Marke verkauft. Es geht nicht darum, ob er oder sie gut schreibt; darüberhinaus muss sie/er nett, cool, unkonventionell… sein. Texte werden danach abgeklopft, ob sie autobiographisch oder wahr sind. Wenn dies geschieht, wird die Literatur, die eine wunderbare, atemberaubende Gaukelei ist, die unsere sorgsam errichteten, pragmatischen Systeme der Ordnung, unsere Festlegungen hinwegfegt und durcheinanderwirbelt, für nichtig erklärt.
Olga Tokarczuk schreibt ein Loblied auf Übersetzungen, die es uns ermöglichen, Grenzen zu überschreiten und uns eintauchen lassen in andere Gesellschaften und Kulturen. Dabei machen sie dies sehr viel besser als die Reisen, die wir unternehmen. Oft genug suchen wir auch hier das Bekannte und Vertraute, das Exotische in Maßen. Reisefreiheit – der Entschluss, ein Land zu verlassen - sei vergleichbar mit Redefreiheit, schreibt Tokarczuk, und stellt ihr die Emigration gegenüber, die durch Freiheitsverlust entsteht.
Die Beiträge, die zwischen 2009 und 2020 entstanden, nehmen uns mit auf eine Weltschau, wie Literatur sie uns geben sollte. Olga Tokarczuk beschenkt die Leserin mit neuen Perspektiven, Gedanken, Überlegungen.
Über allem oder unter allem aber ist die Tiefe Liebe für das Lesen und für Literatur. Sie erzählt ihre höchstpersönliche kleine Geschichte ihres Lesens und von dem Wunder, das beim dabei geschieht: Wir sehen Reihen von Buchstaben, und wenn wir unseren Blick darübergleiten lassen, verwandelt unser Gehirn sie in Bilder, Gedanken, Gerüche, Stimmen. Wir lernen Empathie, wir leben für eine Weile das Leben anderer Menschen.
Wie sie selbst diesen Prozess gestaltet, berichtet sie in den Lodzer Vorlesungen, in denen es um die Psychologie des Erzählens geht und sie einen tiefen Einblick in ihr Schreiben am Beispiel der Jakobsbücher gibt.
In dem Band enthalten ist auch die Rede, die sie anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises hielt. Der liebevolle Erzähler ist sie übertitelt. Tokarczuk möchte hin zu einer Erzählweise, die sich löst vom menschlichen Gattungsnarzissmus und die ganzheitlich und allumfassend ist. Literatur solle sich die Absonderlichkeiten bewahren, die Phantasmorgien, Provokationen, das Groteske und Verrückte.
Sowohl die Erzählende als auch die Lesende sollte sich auf alles, was nicht Ich ist, in liebevoller Zuneigung hinwenden. Ich glaube fest daran, schreibt Tokarczuk, dass ich so schreiben muss, als wäre die Welt eine lebendige, vor unseren Augen immerfort im Werden begriffene Einheit – und wir ein kleiner und zugleich mächtiger Teil dieser Welt.
Olga Tokarczuk versteht es, einen weiten Bogen vom Zustand der Welt zum Zustand der Literatur zu spannen und zu zeigen, dass alles miteinander verbunden ist.
AVIVA-Tipp Olga Tokarczuks Begeisterung und Leidenschaft für Literatur, für das Lesen, das Schreiben, die Fantasie ist ansteckend. Aus ihr spricht eine tiefe Überzeugung für die Notwendigkeit der Literatur und deren Bereicherung auf unser Denken und Handeln.
Die Autorin: Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechow geboren, studierte in Warschau Psychologie und arbeitete als Therapeutin. Sie gründete den Verlag "Ruta" und arbeitete dort, bis sie sich als freie Schriftstellerin niederließ. Tokarczuk gehört zu den bedeutendsten AutorInnen der europäischen Gegenwart. Ihr Werk wurde in 37 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen gewürdigt. Zweimal erhielt sie den wichtigsten polnischen Literaturpreis "Nike". Für ihren Roman Unrast erhielt die den Man Booker International Prize. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Mit dem Preisgeld gründete sie die Olga-Tokarczuk-Stiftung, mit dem sie sie die Beteiligung von Frauen am kulturellen und gesellschaftlichen Leben unterstützen möchte. Olga Tokarczuk lebt in Breslau.
Die Ãœbersetzenden:
Bernhard Hartmann übersetzt Literatur und geisteswissenschaftliche Texte aus dem Polnischen. Für sein Werk wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preist ausgezeichnet.
Lisa Palmes, 1975 in Münster geboren, übersetzt Literatur aus dem Polnischen, u.a. von Wojciech Jagielski, Lidia Ostałowska, Filip Springer, Olga Tokarczuk und Joanna Bator. 2017 bekam Lisa Palmes den Karl-Dedecius-Preis für deutsche Übersetzer polnischer Literatur, 2019 einen Sonderpreis des Riesengebirgspreises für Literatur.
Lothar Quinkenstein, 1967 geboren, ist ein deutscher Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Übersetzer. Gemeinsam mit Lisa Palmes übersetzte er Olga Tokarczuks Jakobsbücher
Olga Tokarczuk: Ãœbungen im Fremdsein. Essays und Reden
Originaltitel: Czuły narrator
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein
Kampa Verlag, erschienen am 14. Oktober 2021
320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978 3 311 10075 1
Euro 24,00
Zum Buch: kampaverlag.ch
Mehr zu Olga Tokarczuk:
www.tokarczuk.wydawnictwoliterackie.pl
www.facebook.com/OlgaTokarczukProfil
www.facebook.com/olga.tokarczuk.english
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Zu den Skandalen der Schwedischen Akademie auf AVIVA-Berlin: Literaturnobelpreis 2019 – Würdigung der großartigen Schriftstellerin Olga Tokarczuk und die skandalöse Entscheidung der Schwedischen Akademie. Eine Chronologie
Wenn am 10. Dezember 2019 die Feierlichkeiten zur Überreichung gleich zweier Literaturnobelpreise beginnen, werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach von starken Protesten begleitet: Die Organisation "Mütter von Srebrenica" ("Majke Srebrenice") wird in Stockholm gegen die Preisvergabe an Peter Handke protestieren. (2019)
Literaturnobelpreis 2018 für die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk
110 Jahre nach dem Literaturnobelpreis für Selma Lagerlöf erhält rückwirkend für das Jahr 2018 die fünfzehnte Frau diesen Preis. Verliehen wurde er an Olga Tokarczuk, die polnische Schriftstellerin, die nicht nur durch ihre Bücher, sondern auch durch ihr politisches Engagement berühmt ist. (2019)
DIE SPUR (OT: POKOT). Regie Agnieszka Holland. Co-Regisseurin: Kasia Adamik. Nach dem Roman Der Gesang der Fledermäuse von Olga Tokarczuk
DIE SPUR (OT: POKOT) zeichnet ein Vexierbild der patriarchalen polnischen Gesellschaft der Gegenwart. Agnieszka Hollands wagemutiger Genremix aus skurriler und mysteriöser Detektivstory, spannendem Ökothriller und politisch-feministischem Märchen wurde auf der 67. BERLINALE mit dem Alfred Bauer Preis ausgezeichnet. Im Fokus der polnischen Filmemacherin Agnieszka Holland ("Hitlerjunge Salomon", "IN DARKNESS – EINE WAHRE GESCHICHTE", "House of Cards", "Treme") steht die streitbare und exzentrische Duszejko, eine pensionierte Brückenbauingenieurin und Tierschützerin, die zurückgezogen in einem Bergdorf an der polnisch-tschechischen Grenze lebt. (2017)