AVIVA-Berlin >
Literatur
AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 -
Beitrag vom 24.02.2022
Natasha Brown - Zusammenkunft
Silvy Pommerenke
Die Ich-Erzählerin in Natasha Browns Debütroman ist eine erfolgreiche junge Frau, die einen glänzenden Uni-Abschluss in Oxford absolviert hat und die Karriereleiter als Bankerin in London steil bergauf steigt. Was auf den ersten Blick nach einem wunderbaren Leben aussieht, entpuppt sich schnell als Trugschluss…
... denn die wesentlichen Faktoren in ihrem Leben sind ihre Hautfarbe und Herkunft.
Sie ist Schwarz und ihre Großeltern sind Einwanderer*innen aus Jamaika. Ihr Umfeld lässt sie das immer wieder spüren, und jede Anstrengung, von der Weißen Mehrheitsgesellschaft (und Männergesellschaft) akzeptiert zu werden, wird mit Ressentiments, Ausgrenzung und Diskriminierung gestraft. Da nutzen auch ihre guten Noten und die hervorragende Arbeitsleistung nichts.
Für sie ist jeder Tag - sowohl im Privaten als auch im Beruf - ein ewiger Kampf, der seinen Tribut fordert. Ängste bestimmen ihr Leben, sie ist permanent angespannt und auf der Hut, und schließlich manifestieren sich diese Ängste in einer somatischen schweren Krankheit.
Dabei hat sie doch vermeintlich alles richtig gemacht. Sie hat ihre Nische gefunden, in der ihre Hautfarbe angeblich kein Karriere-Hinderungsgrund ist: "Die Finanzindustrie war der einzig gangbare Weg nach oben. Ich tauschte mein Leben ein für ein Scheibchen Mittelklassekomfort. Für eine Zukunft." Aber der Preis ist hoch, den sie dafür zahlt. Ihre Kolleg*innen vergiften das Arbeitsklima, verhalten sich ihr gegenüber rassistisch oder sexistisch, und gönnen ihr den beruflichen Erfolg nicht. Er sei nur durch die Quote zustande gekommen, so argumentieren sie.
Wenn sie dann wenigstens im Privaten durchatmen könnte. Aber ihr Freund, der aus einer wohlsituierten Weißen Familie stammt, kann ihr nicht den nötigen Rückhalt geben. Zumal seine Eltern, die sich nach außen hin zwar tolerant geben und die Beziehung irgendwie billigen, sie nur als temporäres Ereignis betrachten. Sie gehen davon aus, dass dies nicht die letzte Frau im Leben ihres Sohnes ist. Ihre jamaikanische Abstammung passt nicht in das Bild der gehobenen Gesellschaftsschicht, und überhaupt, wie würden denn dann wohl gemeinsame Kinder aussehen? Das ernüchterte Fazit der Protagonistin: "Hier geboren, Eltern hier geboren, immer hier gelebt – trotzdem, nie von hier. Ihre Kultur wird auf meinem Körper zur Parodie".
Die einzige Möglichkeit, Souveränität über ihr Leben zurückzugewinnen erscheint auf den ersten Blick unlogisch zu sein, denn sie lehnt eine Behandlung ihrer Erkrankung ab, die dadurch zum Tod führen wird. Auf den zweiten Blick jedoch ist diese Entscheidung mehr als schlüssig: wenn sie schon nicht so leben kann, wie sie es sich wünscht, dann will sie wenigsten frei über ihren Tod entscheiden.
AVIVA-Tipp: Natasha Browns Debütroman "Zusammenkunft" ist auf erschütternde Art und Weise ein poetologisches Kleinod. Statt einer stringenten Handlung setzt die Autorin auf Gedankensplitter - einem inneren Monolog oder Tagebuchnotizen ähnlich -, die in ihrer minimalistischen Zuspitzung eine umso größere Wirkung auf die Leser*in hat, als wenn sie einen 500-Seiten-Roman geschrieben hätte. Sie zeigt die verheerenden Folgen von Rassismus und Sexismus auf den oder die Einzelne*n aus, deren Traumata bis heute nicht geheilt werden können. Ein schmales Buch, das eine große Außenwirkung hat!
Zu Natasha Brown: Sie arbeitete nach ihrem Mathematikstudium an der Universität Cambridge für zehn Jahre im Londoner Finanzsektor. 2019 gewann sie den London Writers Award und konzentriert sich fortan auf das Schreiben. Zusammenkunft gilt in England als das erfolgreichste literarische Debüt 2021. Zum Erscheinen war Natasha Brown auf dem Cover des Vogue Magazine, hymnische Besprechungen folgten in allen namhaften Zeitungen.
Natasha Brown im Netz: www.npbrown.com
Natasha Brown
Zusammenkunft
Suhrkamp Verlag, erschienen 02/2022
Originaltitel: Assembly
Ãœbersetzt von Jackie Thomae
Gebundenes Buch, 113 Seiten
ISBN 978-3-518-43046-0
Euro 20,00
Mehr zum Buch unter: www.suhrkamp.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Mary L. Trump - Das amerikanische Trauma – Die gespaltene Nation – und wie sie Heilung finden kann
Wie bereits in ihrem Bestseller "Zuviel und nie genug", rechnet Mary L. Trump, Psychologin und Autorin, sowie Nichte von Donald Trump, sowohl mit ihm als auch mit der amerikanischen Gesellschaft ab. Die Nation sei gespalten, so sagt sie, weil die millionenfache Versklavung von Schwarzen und die Unterdrückung indigener Völker bis heute Auswirkungen auf die US-amerikanische Gesellschaft habe. (2021)
Audre Lorde – Sister Outsider. Essays
Audre Lorde: Schwarze lesbische feministische Sozialistin und Ikone des Schwarzen Feminismus hat vor vierzig Jahren mit "Sister Outsider" ein eindringliches politisches Werk herausgegeben, das in deutscher Neuübersetzung im April 2021 erschienen ist. Die antirassistischen und antisexistischen Texte sind aktueller denn je! (2021)
Bernardine Evaristo – Mädchen, Frau, etc.
Die Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London und stellvertretende Vorsitzende der Royal Society of Literature erhielt 2019 den Booker Prize für ihren achten Roman. Darin zeigt sie ein Panorama an diversen Stimmen und erzählt eine feministische Geschichte aus der Perspektive von Schwarzen Frauen der letzten einhundert Jahre in Großbritannien. (2021)
Megan Rapinoe – One Life. Das Leben der Fußballikone und ihr Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus
Megan Rapinoe, Weltfußballerin des Jahres 2019, Kapitänin des US-amerikanischen Fußballteams und politisch engagierte Frau, hat mit CO-Autorin Emma Brockes ihre Geschichte aufgeschrieben. Dabei geht es um weit mehr als ihre sportliche Karriere, sondern auch um ihr Engagement gegen die Ungleichbehandlung von LGBTQ im Sport, ihr Engagement gegen soziale Ungerechtigkeit und Rassismus und nicht zuletzt gegen den Gender-Pay-Gap. (2021)
Amanda Gorman - The Hill we Climb / Den Hügel hinauf. Zweisprachige Ausgabe
Mit 22 Jahren ist Amanda Gorman die jüngste Inaugurationsrednerin in der Geschichte der USA. Ihr ergreifendes Gedicht hat wohl alle berührt, die Präsident Joe Bidens und Vize-Präsidentin Kamala Harris´ Amtseinführung mitverfolgt haben. Im März 2021 wurde die deutsche Übersetzung herausgegeben, die im Vorfeld zu heftigen Diskussionen führte. (2021)
Candice Carty-Williams - Queenie
Ausgezeichnet als bestes Buch und bestes Debüt des Jahres bei den British Book Awards 2020 hat die britische Journalistin und Drehbuchautorin Candice Carty-Williams mit "Queenie" ein Buch geschrieben, das sich trotz aller Tragik mit viel Humor und noch mehr Tiefgang dem Thema Rassismus in allen Facetten widmet. (2020)