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Beitrag vom 26.11.2021
Mia Oberländer - Anna
Joanna Piekarska
Völlig zurecht gilt Mia Oberländer als aufstrebender Star der deutschsprachigen Comicszene: Ihr Graphic-Novel-Debüt "Anna", in dem sie vom Zu-Groß- und Anderssein als Frau erzählt, wurde noch vor dem Erscheinen mit dem hochdatierten Comicbuchpreis der Berthold-Leibinger-Stiftung ausgezeichnet.
In dem autobiografisch inspirierten "grafischen Essay" (wie Mia Oberländer selbst ihr Buch bezeichnet) wird ein Aspekt von normativer Attraktivität thematisiert, der in der Bodypositivity-Bewegung sonst nicht unbedingt viel Aufmerksamkeit bekommt: Das Stigma des Großseins als Frau, das irgendwo zwischen Model-Assoziationen und Diffamierung oszilliert, wobei oft nur wenige Zentimeter den Unterschied darüber machen, wie der Körper einer Frau von ihrer Außenwelt wahrgenommen wird.
"Große Frauen wecken keinen Beschützerinstinkt."
Mia Oberländer nimmt die Leserin in "Anna" mit in ein kleines Dorf in den Bergen, wo sie drei Frauen einer Familie aus unterschiedlichen Generationen begleitet, deren Körper nicht der weiblichen Norm entsprechen: Großmutter, Mutter und Tochter heißen Anna 1, Anna 2 und Anna 3 (allein das ist schon ein Schmunzeln wert) und alle drei sind "zu groß" für eine Frau.
Die Autorin betont die Stigmata, die großen Frauen entgegengebracht werden, um sie auszuhebeln. Dabei bekommt besonders die Partnerwahl eine große Aufmerksamkeit, die aber als große Frau mit unüberwindbaren Schwierigkeiten einherzugehen scheint:
"Einerseits passen wir nicht in das Beuteschema der meisten Männer. Doch das ist nichtmal die entmutigendste Tatsache, denn die wenigen großen Männer, die theoretisch für uns übrig blieben, werden ebenfalls von kleinen Frauen begehrt… und… naja… auch die großen Männer wollen kleine Frauen und kleine Frauen wollen große Männer. Große Frauen wecken einfach keinen Beschützerinstinkt."
Ein Plädoyer für Selbstakzeptanz
Über die drei Generationen der Annas hinweg ändert sich nichts an der patriarchal geprägten Außenwahrnehmung der großen Frauen, daran, wie sie als "anders" auffallen und dadurch ausgegrenzt werden. Was sich jedoch mit den Generationen ändert, ist ihr persönlicher Umgang mit dem eigenen vermeintlichen Makel: Während sich Anna 1 für ihre eigene Größe und die ihrer Tochter, Anna 2, und ihrer Enkelin, Anna 3, schämt, sieht Anna 3 gen Ende des Buches sogar das Positive in ihrer vermeintlichen Andersartigkeit:
"Großsein ist etwas Tolles, denkt man. Und vielleicht stimmt das ja auch. Wenn wir Glück haben, wird uns klar: Die Aussicht könnte kaum besser sein."
Natürlich kommt diese Selbstakzeptanz etwas plakativ daher, und ganz so leicht lassen sich Jahrhunderte patriarchal geprägter Schönheitsideale à la "Frauen sollen klein, süß und zart sein und bloß nicht zu viel Raum einnehmen" nicht ablegen. Nichtsdestotrotz gelingt es Mia Oberländer, dass große Frauen sich mit ihren Unsicherheiten gesehen, gehört und verstanden fühlen. Mit "Anna" erscheint endlich ein Buch über und für große Frauen.
Zwischen Metaphern, Humor und Empathie
Im Interview mit Edition Moderne erzählt Mia Oberländer, dass sie in 80% der Fälle zuerst den Text zu ihren Comics schreibe und diese dann ausschließlich in analogen Zeichnungen umsetzte. "Anna" weckt durch die dicken Bleistiftstriche, den beinahe altmodischen Zeichenstil und die Sprechblasen in Schreibschrift Erinnerungen an die eigene Grundschulzeit. Dabei erkennt frau so manches Mal erst auf den zweiten Blick, wie viel Liebe zum Detail und Mühe in den auf den ersten Blick sehr simple erscheinenden Zeichnungen steckt. Und so wie die Annas zu groß für die Welt, in der sie leben, sind, ist das Leseband zu lang für das Buch und frau kommt nicht umhin sich zu fragen, ob das einfach ein Fehler ist, oder ob Anna bis ins letzte Detail, bis hin zum Leseband, eine gut durchdachte Metapher ist. Vermutlich ist letzteres der Fall.
Mia Oberländer überzeugt nicht nur mit den Details und mit viel Empathie, sondern auch mit ihrem ironischen Wortwitz, der, wie sie Edition Moderne verrät, von Loriot geprägt sei.
"Doch überall, wo es hinging, kam eine große Dürre ins Land. Und damit meine ich nicht nur, dass ein riesiger Mensch die Ländereien erreichte, sondern auch, dass alle Pflanzen austrockneten und die Äcker sich in Wüsten verwandelten."
Durch diese humorvolle Erzählweise, die seichte Geschichte und die liebevollen Zeichnungen fühlt sich die Leserin wie in eine warme, gemütliche Decke gehüllt, besonders jene, die nicht in dieser vorformatierte Welt zu passen scheinen. Mia Oberländer trägt mit "Anna", obwohl oder gerade weil sie jedes Klischee zum Großsein gebetsmühlenartig ausspricht, dazu bei, dass Frauen sich ermutigt fühlen, Raum einzunehmen, sowohl im wörtlichen, als auch im übertragenden Sinne. Sie schafft ein feministisches Plädoyer für Diversität und Bodypositivity, sodass wir uns irgendwann hoffentlich vom sexistischen Ideal der kleinen, zarten Frau verabschieden können und alle Körper als "typisch-weiblich" akzeptieren.
AVIVA-Tipp: Mia Oberländer gelingt eine amüsante, facettenreiche und kreative Perspektive auf das Leben als große Frau. Sie zeigt, dass die Annas nicht zu groß für die Welt sind, sondern die Welt zu klein für die Annas. Ein großartiges Debüt, im wahrsten Sinne des Wortes.
Über die Autorin: Mia Oberländer wurde 1995 in Ulm geboren. Sie ist an der Organisation des Hamburger Comicfestivals beteiligt, arbeitet als Multimedia Assistentin für den Norddeutschen Rundfunk und macht gerade ihren Masterabschluss für Illustration in der Klasse von Professorin Anke Feuchtenberger an der HAW Hamburg. Hier ist auch die Idee für ihr Debüt "Anna" entstanden.
Mia Oberländer im Netz: www.instagram.com
Mia Oberländer - Anna
avant-Verlag, erschienen am 7. September 2021
220 Seiten, farbig
16 x 24 cm, Flexcover mit Leseband
25€
ISBN: 978-3-03731-222-3
Mehr zum Buch und zu Mia Oberländer: www.editionmoderne.ch
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