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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 12.11.2021


100 Autorinnen in Porträts: von Atwood bis Sappho, von Adichie bis Zeh
Bärbel Gerdes

Fünf Essayistinnen – 100 Autorinnen – in ihrem Lesebuch porträtieren Verena Auffermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März und Elke Schmitter einhundert wegweisende Schriftstellerinnen. Die Leserin wird eingeladen zu einer Reise durch die Jahrhunderte und durch die Welt der weiblichen Literatur, von Neuseeland nach Südafrika, von Brasilien nach Polen, von Israel nach Deutschland.




Auftakt sei der 20. Januar 2021 gewesen, erzählen uns die fünf Autorinnen in ihrem Vorwort. Als die zweiundzwanzigjährige Amanda Gorman bei der Amtseinführung des US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden und Vize-Präsidentin Kamala Harris ihr Gedicht The Hill we Climb vortrug, stand die Dichterin dort auch als Repräsentantin der weiblichen Stimme der Literatur, die nur allzu oft verschwindet.

Denn in der literarischen Landschaft ist Mann Standard. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt beschreibt Nicole Seifert im Untertitel ihres Buches über Frauenliteratur das, was mit Schriftstellerinnen und ihren Werken geschieht. Sie werden kaum rezensiert, werden nicht zu literarischen Sendungen eingeladen, die Themen ihrer Werke werden abgewertet.
Und auch am Ende dieses Buches machen wir diese Entdeckung. Dort wird für Dennis Schecks Kanon Die hundert wichtigsten Werke der Weltliteratur geworben – 27 davon sind weiblich…

´Masterpieces are not single and solitary births; they are the outcome of many years of thinking in common, of thinking by the body of the people, so that the experience of the mass is behind the single voice.´, schreibt Virginia Woolf.
Durch die chronologische statt alphabetische Anordnung wird genau dies deutlich. Zudem haben sich die Autorinnen für eine Reihenfolge von der Gegenwart zurück ins 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entschieden. So frisst sich die Leserin genüsslich durch diese Essays, trifft alte Bekannte und macht Entdeckungen, erhält Anregungen und lernt ganz nebenbei eine ganze Menge über weibliches Schreiben.

Den einzelnen Beiträgen merkt man die journalistische, aber auch schriftstellerische Herkunft ihrer Autorinnen an: Ursula März und Verena Auffermann schreiben u.a. für die Zeit, Julia Encke u.a. für die Süddeutsche Zeitung, Gunhild Kübler für die Schweizer NZZ und Weltwoche und Elke Schmitter für die taz – Zeitungen übrigens, die sehr gelegentlich mal über das Fehlen und Negieren von Schriftstellerinnen im deutschen Feuilleton klagen, um dann unbeeindruckt davon genau damit weiter zu machen.

Das Lesebuch beginnt mit der 1981 geborenen französisch-marokkanischen Schriftstellerin Leïla Slimani, die in ihrem ersten Buch über eine sexbesessene Frau schreibt, die feige sei und schwach, die lügt und zerstört. Auf ihrer Lesereise entwickelten sich Gespräche mit islamischen Frauen über ihre Sexualität, den Verboten, darüber, dass Homosexualität und Ehebruch in Marokko immer noch unter Strafe stehen. Sex und Lügen heißt der Titel, der aus diesen Gesprächen erwuchs.

In Südkorea lernen wir die wichtigste literarische Stimme ihrer Generation kennen: Han Kang. Die 1970 Geborene schrieb in einem ihrer Romane über das Massaker in Gwangju. 1980 rebellierten Studierende, ArbeiterInnen und BürgerInnen (im vorliegenden Buch heißt es jedoch Studenten, Arbeiter und Bürger) gegen die Militärdiktatur ihres Landes. In einem tagelangen Gemetzel wurden sie von mehr als 20 000 SoldatInnen getötet.

Weiter geht´s über Rachel Cusk, deren schonungsloser Bericht über das Muttersein in Großbritannien zu einem Skandal führte, nach Israel zu Zeruya Shalev und weiter zu Herta Müller, die Sätze zum Luftanhalten [schreibt] und Wörter, die so noch nie geschrieben wurden.

Fast siebzig der hier Porträtierten stammen aus dem 20. Jahrhundert, einer Epoche, so die Autorinnen, in der Frauen fast überall wählen dürfen, Zugang zu Bildung haben, in denen Lebensläufe unabhängig vom Familienschicksal möglich sind.
34 Millionen Mädchen im Grundschulalter gehen weltweit nicht zur Schule, im Vergleich zu 29 Millionen Jungen schreibt UNICEF. 550 Millionen Stunden pro Tag arbeiten Mädchen zwischen fünf und 14 Jahren weltweit UNICEF-Schätzungen zufolge im Haushalt.

Natürlich ist es schwer, eine Auswahl zu treffen. "Wir haben das unabdingbare Kriterium der literarischen Qualität mit dem historisch und biografisch Exemplarischen verknüpft", erklären die Autorinnen ihre Wahl. So treffen wir wirklich viele Bekannte und Freundinnen: Doris Lessing und Toni Morrison und Carson McCullers, Astrid Lindgren, Margaret Mitchell und Anna Seghers. Anna Achmatowa grüßt aus Russland und Johanna Spyri aus der Schweiz, die wunderbare polnische Dichterin Wislawa Szymborska tritt mit ihrer legendären Publikumsscheu und ihrem klugen Humor auf und Agatha Christie mordet in aller Gemütlichkeit.

Je weiter wir uns vor-lesen durch die Jahrhunderte und viel Neues, auch Unterhaltsames erfahren über die Schriftstellerinnen, ihre Werke, den Ländern, denen sie entstammen, desto westeuropäischer wird die Auswahl. Jane Austen, Madame de Stael, die Stadt der Frauen der Christine Pizan und die Heilkunde der Hildegard von Bingen werden nur unterbrochen von dem Kopfkissenbuch der japanischen Hofdame Sei Shonogan, die um 966 geboren wurde.

Dies ist immer die Schwierigkeit solcher Sammlungen: wer wird aufgenommen, wer bleibt draußen? Zu Recht und ohne die Hybris mancher männlicher Literaturkritiker nennen die Autorinnen ihr Werk nicht Kanon und verweisen auch nicht darauf, es handele sich um die wichtigsten Schriftstellerinnen oder Werke.

Jede und jeder … wird Namen vermissen , ist den Autorinnen bewusst. Sie fordern zum Ergänzen auf. Es wäre in unserem Sinn und im Sinn des 20. Januars 2021 – einem Tag der weiblichen Stimme der Literatur.

AVIVA-Tipp: Ein Lesebuch zum Schmökern und Sich-verlieren mit Wiederbegegnungen und Entdeckungen: die Essays über Schriftstellerinnen und ihre Werke laden zum Lesen und Wiederlesen ein, stehen aber auch für sich als anregende und unterhaltsame Lektüre da.

Die Autorinnen:

Verena Auffermann
, geb. 1944 in Höxter, wurde nach einer Buchhandelslehre und einem Studium der Kunstgeschichte neben ihrer Tätigkeit als Dozentin und Herausgeberin vor allem als Kritikerin bekannt. Sie schrieb u.a. von 1981 bis 1996 als freie Mitarbeiterin für das Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Von 1984 bis 2004 war sie Kulturkorrespondentin der Süddeutschen Zeitung. Außerdem arbeitete sie für diverse Feuilletons und Kultursendungen, für den Hessischen Rundfunk, Die Zeit, die Zeitschrift Literaturen und das Deutschlandradio in Köln und Berlin.

Julia Encke, geb. 1971, studierte Neuere Deutsche Literatur, Romanistik und Komparatistik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, der Universität Toulouse II und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie schrieb ihre kulturwissenschaftliche Dissertation über den Ersten Weltkrieg, die 2006 unter dem Titel "Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne. 1914–1934" erschien. 2014 veröffentlichte sie ihr "Charisma und Politik", in dem sie für mehr Leidenschaft in der deutschen Politik plädiert. 2017 erschien "Wer ist Michel Houellebecq? Porträt eines Provokateurs".
Sie schrieb zunächst als freie Literaturkritikerin für die F.A.Z. 2001 bis 2005 war sie feste Mitarbeiterin im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. 2005 wechselte sie in die Feuilletonredaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, seit 2015 leitete sie dort das Literaturressort und im September 2020 wurde sie die Leiterin des FAS-Feuilletons. Encke lebt in Berlin.

Gunhild Kübler, geb. 1944, studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg, Berlin und Zürich. Von 1990 bis 2006 gehörte sie zum Kritikerteam der Schweizer Fernsehsendung "Literaturclub". Sie war Literaturkritikerin der "NZZ", Redakteurin der "Weltwoche"und schreibt aktuell für die "NZZ am Sonntag". Ihre Kolumnen erschienen 2008 unter dem Titel "Noch Wünsche?" bei Dörlemann. Ab 1998 arbeitete sie an der Übersetzung der insgesamt 1800 Gedichte von Emily Dickinson" und publizierte 2015 bei Hanser die erste deutsche Gesamtausgabe "Emily Dickinson: Sämtliche Gedichte". Sie wurde mit dem Paul Scheerbart-Preis ausgezeichnet.

Ursula März, geboren 1957 in Herzogenaurach, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie in Köln und Berlin. Seit Anfang der 1990er Jahre arbeitete sie als Literaturkritikerin und Feuilletonistin unter anderem für die Kulturzeitschrift Kursbuch, für die Frankfurter Rundschau und für die Wochenzeitung DIE ZEIT. Sie erhielt 1991 den Preis der Casinos Austria für Publizistik und 2005 der Berliner Preis für Literaturkritik. Bei Hanser erschienen "Fast schon kriminell: Geschichten aus dem Alltag" (2011) und "Für eine Nacht oder fürs ganze Leben: Fünf Dates" (2015). "Tante Martl" ist ihr erster Roman.

Elke Schmitter, 1961 in Krefeld geboren, studierte in München Philosophie und war von 1992 bis 1994 Chefredakteurin bei der taz; seit 2000 ist sie Redakteurin beim Spiegel. Ihr Roman "Frau Sartoris" wurde begeistert aufgenommen und wird zurzeit in zwölf Sprachen übersetzt.

100 Autorinnen in Porträts. Von Atwood bis Sappho, von Adichie bis Zeh
Verena Auffermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter

Piper-Verlag, erschienen am 14. Oktober 2021
592 S., gebunden, Halbleinen
ISBN 978-3-492-07086-7
Euro 24,00
Mehr zum Buch: www.piper.de

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Beitrag vom 12.11.2021

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