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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 09.10.2021


Antje Rávik Strubel – Blaue Frau. Ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2021
Silvy Pommerenke

Grenzerfahrungen, zumal von außen oktroyiert, stellen die Protagonistin Adina auf eine harte Probe. Dabei sind ihre Grenzerfahrungen vielfältig. Es geht um die innerdeutschen, die zwischen West- und Osteuropa und um die zwischen den Geschlechtern. Nicht zuletzt um eine der verletzendsten: sexuelle Gewalt. Aber Adina ist stark und kämpft um Gerechtigkeit.




Die Potsdamer Autorin Antje Rávik Strubel baut ihren Roman "Blaue Frau" behutsam auf, in einer poetischen Sprache, die sich vor allem in detaillierten Naturbeschreibungen äußert. Es scheint fast so, als wäre die Schönheit der Natur der krasse Gegensatz zu dem traumatischen Erlebnis, das die junge tschechische Praktikantin Adina in der ländlichen Uckermark erfährt.

Dabei geht Antje Rávik Strubel nicht chronologisch vor, sondern wechselt in den verschiedenen Zeitebenen und webt immer wieder die Figur der "blauen Frau" in die Erzählung ein. Eine nicht greifbare Figur, die der Ich-Erzählerin im Hafen von Helsinki begegnet. Nein, sie begegnet ihr nicht, sie erscheint ihr. Ob diese blaue Frau reine Fiktion oder doch der Realität des Romans verpflichtet ist, bleibt offen. Hingegen wird die Funktion der titelgebenden Figur klar umrissen: "Wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten."

Die Leserin wird von Beginn der Erzählung miteinbezogen, dass der Protagonistin etwas Schreckliches passiert ist, aber was genau, wann und wo, wird lange offengelassen. Vor diesem schrecklichen Ereignis flieht Adina, aufgewachsen im tschechischen Harrachov, aus der Uckermark nach Helsinki, wo sie als Tresen-Kraft arbeitet und Leonidas Siilmann kennenlernt, einen Esten aus Tallinn, der Professor für Politikwissenschaften und Abgeordneter des Europaparlaments ist. Die beiden werden ein Paar, auch wenn ein deutlicher Alters-, Bildungs- und Statusunterschied zwischen ihnen liegt.

Während einer Tagung, zu der Adina Leonidas begleitet, geschieht etwas völlig Unvorhergesehenes, das dem Roman eine neue und überraschende Richtung gibt. Und erst jetzt, durch Rückblenden, erfährt die Leser*in von dem traumatischen Erlebnis Adinas. Dank der Einschübe der luziden Figur der blauen Frau verliert es etwas von seiner Schwere. So hilft diese literarische Gestalt das Thema von sexualisierter Gewalt besser zu verarbeiten und vielleicht sogar auch der Protagonistin, Gerechtigkeit zu bekommen.

Die auktoriale Ich-Erzählerin, die im Zwiegespräch mit der blauen Frau steht, wird immer mehr zur handelnden Figur im Roman. Es scheint fast so, als ob sich die Geschichte verselbständigen würde, und sie mit in das Romangeschehen hineingerät. Es ist wie ein Roman in einem Roman, eine Art Reflexion über das Schreiben des Buches, und da autobiographische Details von Antje Rávik Strubel preisgegeben werden (die gleichzeitig eine Abrechnung mit der westdeutschen Kulturlandschaft sind),liegt die Vermutung nahe, dass es sich dabei um das Alter Ego der Autorin handeln könnte.

Vielleicht ist dies auch Ausdruck des langwierigen Schreibprozesses? Antje Rávik Strubel hat an diesem Roman im Gegensatz zu ihren anderen Büchern am längsten geschrieben - ganze acht Jahre. Diese Zeit hat sie dafür benötigt, um sich diesem komplexen Thema mit intensiver Recherchearbeit zu widmen. Auch emotional hat es sie stark angegriffen, so dass sie zwischendurch für anderthalb Jahre mit dem Schreiben aufhören musste. Sie wusste auch nicht, ob sie den Roman zu Ende führen würde können, aber letztendlich wurde sie doch wieder von dem Thema gepackt und hat ihn zum Abschluss gebracht.

Doch bei der "Blauen Frau" geht es nicht nur um die Themen sexuelle Gewalt und Traumata, sondern auch um innerdeutsche, ost-west-europäische und Mann-Frau-Machtverhältnisse. Die Hauptfigur Adina Schejbal ist dreifach von diesen Machtverhältnissen betroffen. Die blaue Frau hingegen hat etwas Luzides, nicht Greifbares, wodurch die Grenze zwischen Fiktion und Realität aufgehoben wird.
Es ist gut, dass Antje Rávik Strubel den Roman zu Ende geschrieben und sich ihren widerstrebenden Gefühlen gestellt hat. Vor allem aber war das Wut, wie sie in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur äußerte, die sie am Weiterschreiben hinderte. Sie beruft sich dabei auf Virginia Woolf, die sagte, man dürfe nicht "im rotglühenden Licht des Zorns schreiben, sondern man muss den Geist weiß leuchten lassen". Ihre Mühen haben sich schon jetzt gelohnt: Die "Blaue Frau" stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, und setzte sich gegen die anderen fünf Nominierten als Gewinnerin am 18. Oktober 2021 durch. Laut Maren Ahring, Kulturredakteurin des NDR, war die Entscheidung unerwartet, "aber sie ist völlig zu Recht gefallen, für ein aktuelles, nachdenklich machendes Buch." Antje Rávik Strubel war sichtlich überrascht und überwältigt von dem wohlverdienten Preis.

AVIVA-Tipp: Der Roman "Blaue Frau" nähert sich in poetischer Sprache dem Thema sexuelle Gewalt und seine traumatischen Folgen. Dadurch wird die Lektüre für die Leser*in aushaltbarer, schmälert aber nichts an der Brutalität der Tat. Zu Recht hat die Potsdamer Autorin dafür den Deutschen Buchpreis 2021 erhalten!

Antje Rávik Strubel live:
22.10.2021 um 20 Uhr im Frankfurter Kunstverein: Lesung und Gespräch im Rahmen von open books
27.10.2021 um 19:30 Uhr im Literaturhaus Stuttgart: Blaue Frau im Erdbebenwetter, Lesung zusammen mit Zaia Alexander
15.11.2021 um 19 Uhr im Gloria Theater Köln: Lange Nacht "Diversity in der deutschen Literatur", eine Veranstaltung des Literaturhauses Köln und des Deutschlandfunks
26.11.2021 um 19 Uhr in der Leporello Buchhandlung Berlin: Lesung aus "Blaue Frau"
30.11.2021 um 19 Uhr im Brechthaus Berlin: Lesung aus "Blaue Frau", Moderation Anne-Dore Krohn
01.12.2021 um 20 Uhr im Literaturhaus München: Lesung aus "Blaue Frau", Moderation Gabriele von Arnim
09.12.2021 in der Hauptbücherei Wien: Lesung aus "Blaue Frau", im Rahmen von 16 Tage gegen Gewalt an Frauen

Zur Autorin: Antje Rávik Strubel geboren am 12. April 1974 in Potsdam, machte nach dem Abitur eine Ausbildung zur Buchhändlerin, bevor sie an der Universität Potsdam und der New York University Literaturwissenschaften, Amerikanistik und Psychologie studierte. Bereits während ihres Studiums schrieb sie für die Potsdamer Neuesten Nachrichten und die Berliner Seiten der FAZ. 2001 erschien ihr Romandebüt "Offene Blende", gefolgt von "Unter Schnee" im selben Jahr, was wiederum zu Veröffentlichungen bei Deutschlandfunk, Die Zeit und EMMA führte. Insgesamt hat Antje Rávik Strubel zwölf Romane und Sachbücher geschrieben. Des Weiteren übersetzt sie Texte aus dem Englischen (u.a. Joan Didion und Lucia Berlin), gibt ihre Liebe zu Schweden und zum Skifahren Ausdruck ("Gebrauchsanweisung für Schweden" und "Gebrauchsanweisung fürs Skifahren") und unterrichtet Schreiben - unter anderem am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, als Leiterin der Prosawerkstatt des LCB oder am Lafayette College von Pennsylvania. Sie erhielt ein Stipendium der Villa Aurora in Los Angeles und war Stadtschreiberin in Rheinsberg. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Unter anderem 2003 den Roswitha-Preis und im gleichen Jahr den Kritiker*innenpreis für Literatur, 2005 den Marburger Literaturpreis für ihren Roman "Tupolew 134", oder 2019 den Preis der Literaturhäuser. Zuletzt wurde sie mit dem Deutschen Buchpreis 2021 ausgezeichnet. Antje Rávik Strubel lebt in Potsdam.

Antje Rávik Strubel im Netz: www.antjestrubel.de

Antje Rávik Strubel
Blaue Frau

S. Fischer Verlag, erschienen 08/2021
Gebundenes Buch, 432 Seiten
ISBN 978-3103971019
Euro 24,00
Mehr zum Buch unter: www.fischerverlage.de

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Literatur

Beitrag vom 09.10.2021

Silvy Pommerenke