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Beitrag vom 04.10.2021
Pascale Hugues - Mädchenschule. Porträt einer Frauengeneration
Bärbel Gerdes
Pflicht, Bescheidenheit, Demut – das sind die Attribute, die Mädchen ihren Lebensweg weisen sollen. Die Journalistin und Schriftstellerin Pascale Hugues hat in ihrem Poesiealbum geblättert und spürt zwölf Frauen auf, die vor langer Zeit ihren Beitrag dazu leisteten.
Es ist kein Spielzeug, sondern ein Wertgegenstand, den man sein Leben lang aufbewahrt..
Ein heimtückisches Ding. Es kommt so lammfromm daher, aber es ist gefährlich.
Das Poesiealbum ist ein seltsames Ding. Es ist Teil des deutschen Kulturguts. Es ist Buch der Freundinnenschaft und der Ermahnung, Buch der Erinnerung und der gutgemeinten Ratschläge.
Vor allem aber ist es ein Buch, in dem Mädchen aufgefordert werden, sittsam und rein, pflichtbewusst und demütig zu sein, ein Buch, das Generationen von Schulmädchen begleitete.
Natürlich gibt es auch eine Ordnung im Poesiealbum: die ersten Seiten sind den Autoritätspersonen vorbehalten, Müttern und Lehrerinnen, Tanten und Geschwistern. Nur selten verirrt sich ein männlicher Gast darin.
Die Schrift soll ordentlich sein und gerne wird noch etwas gemalt – je nachdem, wie nah frau sich stand. Umgeknickte Ecken, aus denen kleine Briefumschläge gefaltet wurden, beinhalten darüber hinaus noch weitere Grußbotschaften.
Pascale Hugues, geboren im Elsass, in Straßburg, bekam ihr Poesiealbum mit neun Jahren von ihrer deutschen Großmutter geschenkt – in Frankreich gab es diesen Brauch nicht. Aufgewachsen in den 1960er Jahren begibt sie sich mehr als 50 Jahre später auf Spurensuche, genauer auf Frauensuche: Was ist aus den Mädchen geworden, die ihr Texte schrieben wie
Dem demütigen Veilchen gleich
Das im Verborgenen blüht,
Sei immer fromm und gut
aber auch
Bis die Flüsse aufwärts fließen,
bis die Hasen Jäger schießen,
bis die Mäuse Katzen fressen,
solang werd ich dich nicht vergessen
Ich suche nach unserer Kindheit Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre. Ich möchte ein Gruppenporträt meiner Generation erstellen.
Tatsächlich wird Hugues fündig und wird konfrontiert mit vielem, was sie als Mädchen nicht wahrgenommen oder gewusst hat: Giacomina hat mit Chanel-Tasche und kleinem Hündchen mit vergoldeter Leine ihren Auftritt beim gemeinsamen Treffen – und erzählt später von ihrer Kindheit. Wie verwirrend es gewesen sei, als sie sich plötzlich mit ihrer Familie auf einem französischen Bahnhof wiederfand, weil es keine Arbeit in Italien gab, in einer kleinen Wohnung in einer finsteren Gasse. Jeder Centime sei zweimal umgedreht worden, berichtet sie, ich habe mich oft geschämt.
Francoise hatte zu Hause nie jemanden, der ihr mit der Schule half, und bei Jeannine gab es manchmal kaum zu essen.
Pascale Hugues spannt einen weiten Bogen, um die 60er Jahre fühlbar zu machen. Denn diese Zeit ist nicht nur StudentInnenprotest und Aufstand, sondern auch patriarchale Ehe, in der das Haushaltsgeld zugeteilt wurde, in der der Mann seiner Frau verbot zu arbeiten und in der Alleinerziehende mit scheelem Blick angesehen wurden.
Es ist die Zeit illegaler und hochgefährlicher Abtreibungen und die Zeit, in der Frauen oft kein eigenes Geld hatten.
Wir alle haben die kleinen Diebereien unserer Mütter mitbekommen. Um ein bisschen eigenes Geld zu haben, zweigten sie gelegentlich ein paar Francs vom Haushaltsgeld ab.
Kaum mehr als 20 Jahre liegt der Zweite Weltkrieg zurück. Zwar bildete der Krieg in ihrer Kindheit ein zunehmend ferneres, zunehmend schwächeres Geräusch, doch als Hintergrundgeräusch blieb er gegenwärtig: an den Familientischen mit immer denselben Anekdoten, dem verbissenen Schweigen der Großväter und Väter. Hugues beleuchtet die vertrackte Situation im Elsass, das im Ersten Weltkrieg noch eine deutsche Provinz war. In aller Legalität kämpften die Männer in der deutschen Uniform. Anders im Zweiten Weltkrieg: niemand wagte es nach dessen Ende herumzuposaunen, er habe die deutsche Uniform getragen. Im Elsass hatten alle nur einen Wunsch: dass die "Innerfranzosen", also die "echten" Franzosen, die hinter den Vogesen lebten, endlich aufhörten, uns für Deutsche zu halten.
Während in Deutschland die Achtundsechziger die Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern erforschten, wurde im Elsass geschwiegen.
Die 60ger Jahre waren auch die Zeit der Entwicklung. Geräte, die die Hausarbeit erleichterten, das Recht, in Hosen ins Büro zu gehen, die Pille und natürlich das Bauen - das ultimative Zeichen für den sozialen Aufstieg. Um dies zu realisieren, wurde gespart und gegeizt. Roselines Eltern übernahmen einen Fernseher von Leuten, die ihren wegwerfen wollten. Sie stellten zwei Apparate übereinander. Beim einen funktionierte nur der untere Teil des Bildschirms, beim anderen nur der obere.
Tatsächlich haben die Mädchen von all diesen Errungenschaften profitiert. Auf unterschiedliche Weise versuchten sie, dem im Poesiealbum vorgezeichneten Weg zu entgehen, auch wenn sich Martine fragt, ob sie nicht unbewusst doch einiges übernommen hätten. Das Album reflektiere die ganze Unterwürfigkeit, die von den Mädchen gefordert wurde.
Alle haben es geschafft, finanziell unabhängig zu werden. Einige haben die Stadt nie verlassen, andere gingen in die weite Welt hinaus.
Und auch an eine sehr wichtige Person im Leben junger Mädchen erinnert Hugues: die erste Lehrerin, die wie die erste Liebe ist, unvergesslich.
AVIVA-Tipp: Pascale Hugues nimmt die Leserin mit auf eine spannende Erkundung, die auch zu eigenen Erforschungen anregt. Geschickt kombiniert sie dabei Zeitgeschichte mit persönlicher Erinnerung, ein leichtfüßiges und inhaltsvolles Buch.
Zur Autorin: Pascale Hugues, 1959 in Straßburg geboren, ist Journalistin und Schriftstellerin. Als Journalistin arbeitete sie u.a. für den Tagesspiegel, Libération und Der Spiegel. Mit ihrem 2008 erschienen Buch Marthe und Mathilde über ihre beiden Großmütter gelang ihr ein großer Erfolg. 2014 kommt La Robe de Hannah. Berlin 1904–2014 heraus, deutsch unter dem Titel Ruhige Straße in guter Wohnlage – Die Geschichte meiner Nachbarn. Darin geht es um die Schwäbische Straße im Berliner Bayerischen Viertel. Was ist das? Chroniques d´une Française à Berlin erschien 2017 (deutsch u.d.T.: Deutschland à la française
Pascale Hugues wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter der Deutsch-französische Journalistenpreis und dem "Chevalier de l´ordre national de Mérite" für ihre Verdienste um die deutsch-französischen Beziehungen. Für La Robe de Hannah erhielt sie 2014 sowohl den Prix du livre européen als auch den Prix Simone Veil. Pascale Hugues lebt in Berlin.
Zur Übersetzerin: Lis Künzli, geboren bei Luzern, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin und lebt heute in Toulouse. Die Übersetzerin von Amin Maalouf, Atiq Rahimi, Camille Laurens, Pierre Bayard, Pascale Hugues, Marivaux, S. Corinna Bille u. a. wurde 2009 mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet. (Verlagsangaben)
Pascale Hugues
Mädchenschule. Porträt einer Frauengeneration
Originaltitel: Ecole de filles
Aus dem Französischen von Lis Künzli
Rowohlt-Verlag, erschienen am 14. September 2021
304 S.
ISBN 978-3-498-00271-8
Euro 20,00
Mehr zum Buch und Veranstaltungen unter: www.rowohlt.de