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Beitrag vom 01.10.2021
Lisa Taddeo - Animal
Joanna Piekarska
Ihr Leben lang wurde Joan von Männern erniedrigt, bis sie entscheidet, sich dieser düsteren Vergangenheit zu stellen, ihrer Wut Raum zu geben und einen Mann zu töten. Der US-amerikanischen Autorin und Journalistin Lisa Taddeo ("Three Women") gelingt ein Plädoyer für weibliche Selbstermächtigung.
Am 30. September 2021 erschien das zweite Buch der US-amerikanischen Autorin und Journalistin Lisa Taddeo. Nach dem internationalen Erfolg ihres Debüts "Three Women", das die Geschichte dreier Frauen erzählt, die Lisa Taddeo acht Jahre lang begleitet hat, ist "Animal" Lisa Taddeos erster fiktiver Roman. Während "Three Women" vor allem dafür gelobt wurde, offen über weibliches Begehren zu sprechen, fokussiert sich die Autorin in "Animal" auf die emotionalen Folgen von Traumata und sexueller Gewalt.
Protagonistin der Geschichte ist Joan, die sich selbst als "verdorben" bezeichnet: Sie hat keine Freundinnen und sieht Frauen ausschließlich als Konkurrenz, stiehlt, manipuliert und betrügt und sucht Bestätigung in wahllosem Sex. Mit Mitte 30 scheint sich Joans Welt nur um Männer, und wie sehr diese sie begehren, zu drehen. Jede Begegnung wird sexualisiert und obwohl ihr Selbstwert von der Bestätigung von Männern abhängig ist, hasst Joan sie.
Joan zieht nach dem Selbstmord einer ihrer Affären von New York nach Los Angeles. Der Tod ihres Liebhabers sei, so beschreibt es Lisa Taddeo in einem Interview mit "Esquire", ein unbedingt notwendiger Weckruf für Joan und ist deshalb die erste Szene des Buches.
In Los Angeles will Joan ihre Halbschwester Alice kennenlernen, deren Mutter eine Affäre von Joans Vater war, um sich mit ihr zusammen mit ihrer düsteren Vergangenheit auseinandersetzen, die sie alleine jahrelang verdrängt hat.
"Nennt uns nicht verrückt, wenn wir wütend sind" - Lisa Taddeo
Es ist eine echte Herausforderung, die Handlung von "Animal" zu beschreiben, ohne zu viel vorweg zu nehmen, da Lisa Taddeo der Leserin Joans dunkle Kindheit und vergangene Männerbeziehungen erst nach und nach in den Gesprächen mit Alice eröffnet. In diesen erzählt Joan von sexueller Gewalt, Kindesmissbrauch, Vergewaltigungen, Seitensprüngen, Mord und Selbstmord. Durch diese Vielzahl traumatischer Erlebnisse, in denen sich die Männer in ihrem Leben selbstverständlich und rücksichtslos das genommen haben, was sie wollten, trägt Joan eine tiefe Trauer und einen großen Männerhass in sich.
Während die Leserin immer mehr über Joans Vergangenheit erfährt und beginnt, sich zunehmend in die traumatisierte Einzelgängerin hineinversetzen zu können und sie zu mögen, verstärkt sich Joans Hass auf Männer immer mehr, bis er sich schließlich Bahn bricht, und sie einen Mann tötet: Ihren dementen Nachbarn, der ihr beichtet, seine Frau belogen und betrogen zu haben. Joan entscheidet, nicht mehr Opfer sein zu wollen, auch wenn sie dafür zur Täterin werden muss.
"I wasn´t looking to tell a story about someone going on a killing spree but I did want to tell a story about the complexity of feeling." (Lisa Taddeo im Esquire, 23.06.2021)
Noch mehr als in "Three Women" gelingt es Lisa Taddeo in "Animal", die Leserin an die dunkelsten Stellen der menschlichen Psyche mitzunehmen. Dabei appelliert sie an Frauen, alle Gefühle, ob Lust, Trauer, Wut oder Hass zuzulassen und auszuleben, auch wenn diese ihnen abgesprochen werden.
"Aber mir sind hundert sehr schlimme Dinge passiert. Soll ich da etwa den Mund halten? Ein gutes Mädchen sein und meinen Schmerz hinunterschlucken? Oder sehr ungezogen sein und meine Wut an der Welt auslassen? So oder so wird man mich nicht lieben." (Protagonistin Joan in "Animal").
Joan steht stellvertretend für eine kollektive Wut und kollektiven Schmerz, den Frauen durch sexuelle Unterdrückung und patriarchale Gewalt mit sich tragen. Lisa Taddeo zeigt, was passiert, wenn Frauen dieses Gefühl herauslassen würden anstatt es zu unterdrücken. Während Joan anfangs als Anti-Heldin gelesen wird, versteht die Leserin zunehmend ihr Handeln und muss sich zwingend die Frage stellen: "Wie viel Joan steckt in mir?".
Obwohl Joan stellenweise etwas klischeehaft wirkt und auf ihre Rolle als Opfer reduziert wird, gelingt Lisa Taddeo mit "Animal" ein für den Feminismus wichtiger Roman. Eine verloren erscheinende Frau, die anfangs nur lebt, um zu überleben, ermächtigt sich selbst und gibt ihrem Hass, der so lange gebrodelt hat, Raum. Damit verwandelt sie ihren Schmerz in Stärke. Die Leserin kann beobachten, wie Joan, als sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt und ihre Gefühle zulässt, beginnt, sich und ihr Leben wertzuschätzen und wie sie lernt, Frauen zu vertrauen. Im Kampf gegen männliche Unterdrückung lernt Joan weibliche Solidarität kennen.
AVIVA-Tipp: An Joans Geschichte wird frau sich noch lange erinnern. Mutig, fesselnd und wahr beschreibt Lisa Taddeo in "Animal", wie weibliche Wut und weiblicher Schmerz sich Bahn brechen.
Zur Autorin: Lisa Taddeo, geboren 1980 in New Jersey, gelang bereits mit ihrem ersten Buch "Three Women" ein internationaler Erfolg: Das Buch erreichte Platz 1 der Bestsellerlisten der New York Times, Sunday Times und des Spiegel. Eine Serienadaption für "Three Women" ist geplant. Zudem schreibt sie popkulturelle Features für die New York Times, Elle, Esquire, Observer und New York. Für zwei ihrer Kurzgeschichten wurde sie mit dem Pushcart Prize ausgezeichnet, 2017 und 2019. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in New England.
Mehr auf Lisa Taddeos Website: www.lisataddeo.com
Zur Übersetzerin: Anne-Kristin Mittag, geboren 1988, lebt als freie Übersetzerin und Lektorin in München. Sie hat u.a. Ocean Vuong und Maggie O´Farell ins Deutsche übersetzt.
Lisa Taddeo
Animal
Originaltitel: Animal
Piper Verlag, erschienen am 30.09.2021
Ãœbersetzt von Anne-Kristin Mittag
416 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-492-07093-5
22,00 €
Mehr zum Buch unter: www.piper.de
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