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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 22.09.2021


Nicole Seifert - FRAUEN LITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt
Isabel Rohner

Schriftstellerinnen gab es zu jeder Zeit. Und seit Jahrhunderten stoßen ihre Werke in unserer männergeprägten Kultur und Gesellschaft auf dieselben Hindernisse und Vorurteile. Es ist wirklich Zeit, auch ein breites Publikum jenseits der feministischen Literaturwissenschaft für die dahinterliegenden Mechanismen zu sensibilisieren. Das macht Nicole Seifert mit dem vorliegenden Buch virtuos. Ein Buch, das wirklich alle lesen sollten.




Haben Sie sich mal gefragt, wie viele Schriftstellerinnen Sie in Ihrer Schulzeit kennengelernt, wie viele Texte von Autorinnen Sie gelesen haben? Und ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass im deutschsprachigen Feuilleton weit häufiger Bücher von Männern als von Frauen vorgestellt und besprochen werden? Wenn Sie nun antworten, das läge daran, dass halt nicht so viele Frauen geschrieben hätten und Texte von Frauen leider bis heute seltener "Literatur" seien, dann müssen Sie dringend das Buch von Nicole Seifert lesen. Alle anderen natürlich auch – denn Seiferts Buch gibt allen fundiertes Hintergrundwissen und Argumente an die Hand, wenn das nächste Mal wieder jemand im Brustton der Überzeugung behauptet, bei Büchern – die gelesen, veröffentlicht, erinnert werden – gehe es "nur um Qualität" und "nicht um das Geschlecht".

"FRAUEN LITERATUR" heißt das mitreißende, sehr, sehr gut geschriebene Werk von Seifert. Die Autorin bricht damit direkt mit der ungeschriebenen Regel, Buchtitel so zu wählen, dass sie auch ausgesprochen werden können. Und tatsächlich geht es in ihrem Buch um einen Aspekt der Literatur und Literaturrezeption, der eben kaum zur Sprache kommt: um die systemische Benachteiligung und – um mit Marlene Streeruwitz zu sprechen – den "Versuch der Vernichtung" schreibender Frauen. Das durchgestrichene Wort "Frauen" verweist auf die Gefahr der Unterscheidung zwischen "Frauenliteratur" und "richtiger Literatur". Bis heute ein perfider, jedoch sehr erfolgreicher Weg, Texten von Autorinnen den Status der "Literatur" zu versagen. Der Strich macht die Unterscheidung überflüssig. Und gleichzeitig spielt der Titel auf unsere Literaturgeschichte an, in der das Ausradieren, das Durchstreichen der Frauen eine lange und schmerzhafte Tradition hat.

Nicole Seifert – promovierte Literaturwissenschaftlerin, gelernte Verlagsbuchhändlerin und langjährige Lektorin und Übersetzerin – beginnt ihr Buch mit einer Reise in ihre persönliche Literatursozialisation: Schon als Kind eine Vielleserin mit eigenem Lektüretagebuch, führt sie ihre Leser*innen aus der eigenen Erfahrung an die Fragen, die sich alle, sie sich für Bücher interessieren, dringend einmal stellen sollten: Wer entscheidet eigentlich, welche Werke aus einer Epoche überdauern? Warum sind das vor allem Werke von Autoren – obwohl zu jeder Zeit Frauen sehr erfolgreich, ja innovativ geschrieben haben und als Schriftstellerinnen bekannt waren? Wer bestimmt den Kanon – und lässt sich dieser auch verändern? Schreiben Frauen anders als Männer – und was sagt es über das vielbeschworene Kriterium der literarischen Qualität aus, wenn bei anonymisierten Literaturwettbewerben plötzlich zu drei Vierteln Autorinnen im Finale stehen, bei nicht-anonymisierten das Geschlechterverhältnis jedoch umgekehrt ist? Die Antwort auf diese Fragen hat bei Seifert übrigens dazu geführt, dass sie selber einmal nachgezählt hat, wie viele Bücher von Männern und wie viele Bücher von Frauen sie bislang gelesen hat. In der Folge las sie nun über Jahre ausschließlich Werke von Autorinnen. Der Nachholbedarf war groß.

Seifert macht deutlich, wie sehr das Geschlecht eines/einer Autor*in bei der Entscheidung für ein Buch eine Rolle spielt. Dies gilt für Verlage genauso wie für Kritiker*innen und Leser*innen: Geschlechterzuschreibungen prägen die Rezeption – und wirken sich im Fall von Autorinnen bis heute negativ aus. Seifert legt den Finger damit mitten in eine zentrale Leerstelle unserer Kultur. Mit zahlreichen Exkursen in die Geschichte zeigt sie, dass der Ausschluss der Frauen aus dem Kanon eine lange Tradition hat und sich die Strategien gegen schreibende Frauen bis ins 21. Jahrhundert erschreckend ähneln. Texte von Frauen wurden und werden bis heute seltener rezensiert und wenn doch, dann fallen die Rezensionen oft kürzer aus, werden als Sammelrezensionen abgehandelt, und legen überdurchschnittlich oft ihren Fokus auf das "Frausein" und Privatleben der Autorin. Das literarische Schaffen von Schriftstellerinnen wird mit Verweis auf die verhandelten Themen abgewertet oder gleich ganz in Frage gestellt. So war der Kritiker Marcel Reich-Ranicki der festen Überzeugung, Frauen könnten per se keine Romane schreiben. Auf die Frage nach der Begründung rief er aus: "Fragen Sie Gynäkologen!" Seifert zeigt: Dieser Ausspruch ist nur die Spitze eines misogynen Literaturbetriebs.

Die Autorin spannt den Bogen insbesondere vom 19. bis ins 21. Jahrhundert und stellt zahlreiche ausgewählte und vergessene Werke von Autorinnen vor. Sie nimmt deren Rezeptionsgeschichte(n) in den Blick, nimmt Bezug auf Forschungsliteratur und aktuelle Studien. Ihr Buch bleibt spannend bis zur letzten Seite.

Und noch etwas leistet Nicole Seifert mit "FRAUEN LITERATUR": Sie erinnert daran, wie viel Spaß Literaturwissenschaft machen kann, wenn diese nicht auf einem Auge blind ist, sondern mit beiden Augen liest.

AVIVA-Tipp: Dieses Buch mit seinen vielen Lektüretipps ist ein wunderbarer Anlass, in den kommenden Jahren ausschließlich Bücher von Frauen zu lesen!

Zur Autorin: Nicole Seifert, Jahrgang 1972, studierte nach einer Ausbildung im S. Fischer Verlag Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften sowie Amerikanistik in Berlin. Sie promovierte über die Tagebücher von Virginia Woolf, Katherine Mansfield und Sylvia Plath und arbeitete im Lektorat des Berlin Verlags und des Rowohlt Verlags. Nicole Seifert lebt mit ihrer Familie in Hamburg, wo sie als Lektorin und Übersetzerin tätig ist und unter dem Pseudonym Anneke Mohn auch Unterhaltungsromane schreibt. Während der Vorbereitungen zu ihrer Hochzeit kam ihr die Idee zum Buch "Hochzeit? Hochzeit!", das AVIVA-Berlin 2017 rezensiert hat. Herausgeberin Nicole Seifert veröffentlichte darin zehn kluge, pointierter Texte großer Autorinnen - Jane Austen, Virginia Woolf, Katherine Mansfield, Dorothy Parker, Alice Munro, Zadie Smith, Laurie Colwins, Bobbie Ann Mason, Lorrie Moore und Karen Köhler.
Nicole Seifert betreibt den Blog "NachtundTag", der sich ausschließlich mit Schriftstellerinnen beschäftigt, Dieser wurde 2019 mit dem Buchblog Award von Netgalley und dem Börsenverein des deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Mehr unter: nachtundtag.blog

Nicole Seifert
FRAUEN LITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt

Kiepenheuer & Witsch, erschienen am 9. September 2021
222 Seiten.
18 Euro. Auch als e-book erhältlich.
Mehr zum Buch und Veranstaltungen unter:www.kiwi-verlag.de

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Beitrag vom 22.09.2021

AVIVA-Redaktion