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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 13.08.2021


Ling Ma – New York Ghost
Silvy Pommerenke

Das dystopische Debüt von Ling Ma mutet wie ein Corona-Roman an. Auch wenn es bereits 2018 unter dem Titel "Severance" in den USA veröffentlicht wurde, so sind die Parallelen, die es zur aktuellen Situation weltweit gibt, frappierend.




Mitreißend von der ersten Seite an gestaltet die US-Amerikanerin Ling Ma mit chinesischen Wurzeln einen Endzeit-Thriller, bei dem die Hauptfigur Candace Chan erst spät mitbekommt, dass sie sich mitten in einem Super-GAU namens Shen-Fieber befindet: "Ich sah aus dem Fenster. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass der Times Square vollkommen menschenleer war. Keine Touristen, keine Straßenverkäufer, keine Streifenwagen. Dort war niemand. Es war gespenstisch ruhig, wie am Weihnachtsmorgen. Wie war es so geworden, ohne dass ich es mitbekommen hatte?"

Das Verlagshaus, in dem Candace die outgesourcte Produktion von Bibeln in China betreut, verteilt Merkzettel, auf dem die wichtigsten Punkte zum grassierenden Shen-Fieber aufgeführt sind. Eine um sich greifende tödliche Infektion, ausgelöst durch aerogene Sporen, die an importierten, chinesischen Konsumgütern haften. Was folgt, klingt fast wie die Corona-Maßnahmen und Auswirkungen in der Jetzt-Zeit: Atemschutzmasken und Schutzhandschuhe werden verteilt, Geschäfte schließen, U-Bahnen fahren nicht mehr, Menschen fliehen aus Big Apple. Candace ist die letzte Person, die aus New York fliehen kann. Sie trifft auf eine kleine Gruppe anderer Überlebender, die auf dem Weg in "Die Anlage" ist. Ein Ort in der Nähe von Chicago, wo sie alles hätten, was sie bräuchten, um eine neue Gesellschaft zu gründen. Aber nicht nur der Weg dorthin gestaltet sich als gefährlich, sondern auch in der Zweckgemeinschaft tun sich tödliche Abgründe auf…

Ling Ma erzählt aber weit mehr als eine Dystopie, denn sie verwebt darin eine Familiengeschichte, die von Migration bestimmt ist, sie übt bissige Satire gegenüber den Millennials, die sich dem Kapitalismus und dem Konsum verschrieben haben, und sie zeichnet ein New York Portrait, das geprägt ist von überteuerten Mieten und unterbezahlten Jobs. "Ich habe immer in dem Mythos New York gelebt, mehr als in seiner Realität. Deshalb konnte ich dort so lange leben, weil ich die Vorstellung davon mehr liebte als die Stadt selbst."

Candace Chens Wurzeln liegen im chinesischen Fuzhou. Die Schilderungen ihres Heimatlandes fallen düster-melancholisch aus: "Wäre das Fuzhou-Nachtgefühl Musik, es wäre R&B aus den frühen/mittleren Neunzigern. Wäre es ein Geschmack, es wäre die eiskalte Pepsi, die wir trinken, während wir durch enge Gassen gehen [...]. Es ist das Gefühl, in einem großen, heißen Abwassergraben zu ertrinken, in einer unverbundenen, ungestillten Wunde herumzukriechen, die nie ausgebrannt wurde." Dieser Background ist aber auch ein Türöffner für ihre Arbeit in dem US-amerikanischen Verlagshaus. Ihr geht es wie vielen Migrant*innen: sie sind hin- und hergerissen zwischen ihrem Geburtsland, und ihrer neuen Heimat.

Ling Ma verknüpft zudem den dystopischen Teil des Romans mit den Auswirkungen der Globalisierung. Das Szenario, das sie entwickelt hat, klingt ganz nach einer Vorausnahme der aktuellen Corona-Pandemie. Glücklicherweise sind wir noch weit von dem entfernt, was die Autorin heraufbeschwört. Und dennoch, viele Passagen klingen sehr bekannt: "In einer Rundmail stand, dass es von nun an Firmenpolitik für alle Angestellten war, im Büro N95-Masken zu tragen (vorher war dies nur eine Empfehlung gewesen). Spectra würde jeden Angestellten mit zwei N95-Masken ausstatten. Wenn wir mehr bräuchten, könnten wir bei der Personalabteilung weitere zu einem billigeren, subventionierten Preis beziehen."

AVIVA-Tipp: "New York Ghost" ist ein wirklich faszinierender Debütroman. Auf verschiedenen Zeitebenen blättert die Autorin die Familiengeschichte der Hauptfigur auf, schildert ihre Jahre in New York, bevor es zu der tödlichen Sporen-Infektion kommt und schließlich die dritte Ebene, in der sie nach der Pandemie eine von wenigen Überlebenden ist, die sich in einer dystopischen Welt wiederfindet. Absolut lesenswert!

Zur Autorin: Ling Ma wurde in China geboren und wuchs in den USA auf. Ihr Debütroman "New York Ghost", der anfangs als Kurzgeschichte angelegt war, und an dem sie vier Jahre arbeitete, erschien 2018 unter dem Titel "Severance" und wurde bereits in sieben Sprachen übersetzt. Er gewann zahlreiche Preise, unter anderem 2018 den Kirkus-Preis. Außerdem wurde er als New York Times Notable Book of 2018 sowie in die engere Auswahl für den Hemingway Foundation/PEN Award 2019 aufgenommen.
Ling Ma lehrte Kreatives Schreiben und Englisch an der Cornell University und der University of Chicago, wo sie auch lebt.
Ling Ma im Netz: www.lingma.com

Ling Ma - New York Ghost
Originaltitel: Severance
CulturBooks Verlag, erschienen 03/2021
Aus dem Amerikanischen von Zoë Beck
Hard Cover, 360 Seiten
ISBN 978-3-95988-152-4
Euro 23,00
Mehr zum Buch unter: www.culturbooks.de

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Beitrag vom 13.08.2021

Silvy Pommerenke