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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 12.05.2021


Colette – La Vagabonde
Christina Mohr

Der stark autobiographisch gefärbte Roman "La Vagabonde" bedeutete 1910 den Durchbruch für die Varietékünstlerin und Schriftstellerin Sidonie Gabrielle Colette, genannt Colette, die 1873 …




… als jüngstes von vier Geschwistern geboren wurde und in der Bourgogne aufwuchs.

Mit zwanzig Jahren heiratete Colette den deutlich älteren Henry Gauthier-Villars, der sich mit mäßigem Erfolg als Autor versuchte – allerdings erkannte Gauthier-Villars das literarische Talent seiner jungen Gattin und nutzte dieses skrupellos aus. Er zwang Colette, unter seinem Pseudonym "Willy" eine Romanserie aus weiblicher Perspektive zu schreiben. Für die ersten Titel der berühmten "Claudine"-Reihe konnte sich Gauthier-Villars noch die Rechte sichern. Nach der Scheidung von ihrem untreuen Willy veröffentlichte Colette weitere "Claudine"-Romane, dann jedoch selbstbewusst unter eigenem Namen.

In der Tat bot Colettes wildes Leben als Tänzerin, Schauspielerin und Liebling der Pariser Boheme viel Stoff für Romane – und weil sie keineswegs eine vergnügungssüchtige Lebedame war, sondern hochintelligent, eloquent und mit einem durch nichts aufzuhaltenden Schreibeifer gesegnet, verfasste sie die Romane gleich selbst. Sowohl ästhetisch als auch inhaltlich setzte Colette neue, eigene Maßstäbe: Unverblümt schrieb sie über lesbische Liebe und Beziehungen zu jüngeren Männern, gespickt mit Zeugnissen ihrer Bildung und Belesenheit.

"La Vagabonde", in neuer Bearbeitung nun wieder erhältlich, trägt unübersehbare Züge ihres eigenen Lebens: So schlägt sich Protagonistin Renée Néré nach ihrer Scheidung als Varietétänzerin durch, wohnt zur Miete mit Haushälterin und Hund – einen gewissen Standard kann sie sich durchaus leisten, ist von Unterstützung jedweder Art unabhängig, worauf sie stolz ist. Der Kontakt zu ihren männlichen Kollegen ist raubeinig-kameradschaftlich, hin und wieder überkommen Renée beinah mütterliche Anwandlungen: "Armer kleiner Bouty (…) Seine Krankheit und sein harter Beruf bringen ihn um (…) ich muss mir verkneifen, mich niederzubeugen, ihn aufzuheben und um Hilfe zu rufen." Doch für Sentimentalitäten ist im Varieté keine Zeit. Alles dreht sich um die Kunst, gelungene oder weniger erfolgreiche Auftritte, die nächste Tour und um die anderen Künstler*innen, die nach ihrem Engagement weiterziehen: "Wo werde ich sie wohl wiedersehen? In Paris, in Lyon, in Wien oder in Berlin?... Vielleicht auch nie wieder, vielleicht nirgendwo."

Auf Liebschaften lässt sich die emanzipierte Renée nur selten ein, bis ihr Maxime Dufferin-Chautel, ein begeisterter Zuschauer, Avancen macht. Zunächst macht sie sich über den "großen Jungen" lustig, der ihr unerfahren, plump und unsouverän erscheint. Schließlich lässt sie sich auf sein Werben ein, er darf sie – in Begleitung eines Freundes – besuchen. Nur "hingeben" will sich Renée nicht. Zu groß ist ihre Furcht, wieder emotional und körperlich von einem Mann abhängig zu sein, zu tief sitzen die Demütigungen der belogenen und betrogenen Ehefrau, die sie einst war und nie wieder sein will. Maxime lässt sich indes nicht beirren. Nach einer Weile verliebt sich Renée doch in ihn, was sie nur ungern vor sich selbst eingestehen muss: "Und was hat der Mann, der diese blinde, unschuldige Schwärmerei erweckte, aus ihr gemacht? Das Fenster zu, rasch das Fenster zu! Ich schaudere..."

Rührend wirken die gegenseitigen Liebesschwüre und Keuschheitsbeteuerungen, die Renée und Maxime in Briefen austauschen, als Renée auf eine Tournee geht. Doch während dieser Tournee reift in Renée auch der Entschluss, die zarten Bande nicht weiterzuführen. Sie beendet – schriftlich! - die Verbindung, um als Vagabundin, unabhängig und frei, weiterzuziehen.

Dieses Postulat weiblicher Selbstbestimmung war Anfang des 20. Jahrhunderts aufsehenerregend, wenn nicht skandalös, galt doch die (heterosexuelle) Paarbeziehung als höchstes Ziel, das eine Frau erreichen konnte. Dass Renée/Colette dies aufgab, um ihr Glück allein und in der Arbeit zu finden, war in der Gesellschaft nicht vorgesehen. Colettes Aufruf zu Selbständigkeit und Freiheit hat nichts von seiner Kraft verloren - "La Vagabonde" ist ein zeitloses Manifest des Feminismus.

AVIVA-Tipp: "La Vagabonde" ist ein aufrührerisches Buch von einer außergewöhnlich klugen Autorin, die thematisch und stilistisch ihresgleichen sucht. Auch heute noch.

Zur Autorin: Sidonie Gabrielle Colette (1873 – 1954) gehört zu den modernen Klassikerinnen der französischen Literatur. Sie war durch und durch Nonkonformistin, hatte Beziehungen mit Männern und Frauen und hinterließ ein umfangreiches Werk, das in die berühmte Bibliothèque de la Pléiade (Gallimard) aufgenommen wurde. Colette war Mitglied der Académie Goncourt, eine zeitlang auch deren Vorsitzende. 1920 wurde sie zum Ritter (sic!) der französischen Ehrenlegion ernannt, 1953 zum Grand Officier. Als erster Frau in Frankreich wurde ihr ein Staatsbegräbnis zuteil.

Colette
La Vagabonde

(aus dem Französischen von Grit Zoller, neu bearbeitet von Judith Petrus)
272 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-86915-225-7
ebersbach & simon, erschienen 17. Februar 2021
Mehr zum Buch unter: www.ebersbach-simon.de

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Colette - Die Katze
In ihrem Kammerspiel um ein Paar und eine Katze seziert Sidonie-Gabrielle Claudine Colette genüsslich die Auflösung einer Ehe bereits kurz nach der Hochzeit. 85 Jahre nach der Erstveröffentlichung von "La Chatte" hat der schmale Roman nichts von seiner Spannung eingebüßt – und leider hat sich auch kaum das Verhältnis zwischen Frauen und Männern geändert. (2018)


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Beitrag vom 12.05.2021

Christina Mohr