Koleka Putuma - Kollektive Amnesie. Gedichte. Herausgegeben von Indra Wussow - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 23.02.2021


Koleka Putuma - Kollektive Amnesie. Gedichte. Herausgegeben von Indra Wussow
Helga Egetenmeier

Der Gedichtband "Kollektive Amnesie" ist das international viel beachtete und mehrfach ausgezeichnete Debüt der südafrikanischen Lyrikerin Koleka Putuma. Darin setzt sie sich mit dem von Rassismus und Sexismus geprägten Leben schwarzer Frauen...




... auseinander, das auch siebenundzwanzig Jahre nach der offiziellen Beendigung der Apartheid weiterhin das Leben in Südafrika bestimmt.

Innerhalb eines Jahres nach seinem Erscheinen wurde die Lyrikerin mit diesem Buch die meistverkaufte Poetin in der Geschichte des Landes.

"Born Free" - Südafrika nach der Apartheid

Koleka Putuma wurde am 22. März 1993 in eine sich verändernde südafrikanische Gesellschaft hinein geboren. Nach den ersten freien Wahlen am 27. April 1994 stellte der African National Congress (ANC) mit Nelson Mandela den ersten schwarzen Präsidenten. Damit gehört Putuma zu der sogenannten Generation "born free", die große Hoffnungen in die von Mandela versprochene Regenbogennation setzte.

Heute bestimmen Massenarmut, Bildungsnotstand, Korruption und Rassismus die südafrikanische Gesellschaft. Ebenso erschreckend verbreitet ist die zunehmende Gewalt gegen Frauen und das Ansteigen der Femizide, weshalb Frauen mit Demonstrationen auf die Bedrohungen durch die patriarchale Ideologie aufmerksam machen und politische Veränderungen einfordern. Zwischen diesen enttäuschten Erwartungen auf eine bessere Zukunft und der bedrückenden Lebensrealität schwarzer Frauen hat Koleka Putuma ihre kraftvollen und gesellschaftskritischen Gedichte angesiedelt.

"Kollektive Amnesie" - Die Gedichte von Koleka Putuma

Bereits der aussagekräftige Titel des Gedichtbandes, "Kollektive Amnesie", lässt die Dimensionen von Putumas Gedanken und Gefühlen erahnen, um die ihre Gedichte kreisen. Er erinnert an das im Jahr 2012 von Peggy Piesche herausgegebene Buch "Euer Schweigen schützt euch nicht" mit Texten von und über die Lyrikerin und Feministin Audre Lorde. Lorde rief zu aktivem politischen Handeln auf und trug damit in den 1980er Jahren maßgeblich zur Entstehung der Schwarzen Frauenbewegung in Deutschland bei. Die beiden, wie Spiegelbilder wirkenden Titel, verweisen auf die lange Kontinuität schwarzer, feministischer Kämpfe und die Kraft zur Veränderung, die aus den Erfahrungen der Vergangenheit erwächst. Wie wichtig das Gegenteil von Amnesie, das kollektive Gedächtnis, ist, zeigt Koleka Putuma mit jedem ihrer Gedichte.

Sie ist als Dichterin gleichzeitig die schwarze, lesbisch lebende Frau in ihrer Lyrik, die über ihre persönlichen Erfahrungen spricht. Dieser authentische Bezug berührt durch seine Offenheit und zieht mit ihren ausdrucksstarken und einfachen Worten in den Bann. So in ihrem neunseitigen Gedicht "No Easter Sunday For Queers", in dem sie auf ihre Familiengeschichte verweist. Sie wuchs als Tochter eines Pastors auf und setzt sich darin sowohl mit ihrem Vater, als auch mit der religiös begründeten Homophobie der südafrikanischen Gesellschaft, auseinander.

"Daddy
Wenn mich jemand kreuzigen
Und drei Tage lang in einem Grab verscharren würde
Und ich als Schlagzeile neu auferstehen würde
Würdest du dann von mir predigen?
Würdest du der Gemeinde sagen, dass es meine Sünde war, die sie dazu zwang, es zu tun?
Würdest du die Mörder Heuchler oder Feiglinge oder Diener Gottes nennen?
Würdest du dich selbst als Judas bezeichnen?
Wie würdest du den Stein von meinem Grab rollen?
Würdest du von mir predigen?
Und was würdest du sagen?
Meine Tochter wurde gestern ermordet
Oder eine Lesbe wurde gestern ermordet?
Daddy,
Würdest du überhaupt davon predigen?"


Bei ihrem wohl bekanntesten Gedicht, "Wasser" verdichtet Putuma dieses zu einem Bestandteil der Erinnerung an Rassismus. Wasser steht dabei für Sklav*innenhandel und Flüchtlinge, deren vom Christentum und Patriarchat geschützte Ausbeutung und Ermordung, die von der Bibel und den Geschichtsbüchern legitimiert werden. Sie klagt an, dass "Amnesie" eingefordert wird: "...und wir alle können anschließend dieses bittere Mahl mit Amnesie fortspülen." In ihrem offiziellen Video zu dem Gedicht rezitiert Putuma "Wasser" an den Orten, auf die sie darin Bezug nimmt und zeigt damit, wie die Kraft der Erinnerung an den globalen Machtverhältnissen rütteln kann.

AVIVA-Tipp: Koleka Putuma ist eine leidenschaftliche politische Dichterin, die sich mit ihrer kraftvollen Lyrik gegen das gesellschaftliche Schweigen und Vergessen stemmt. Ihre ausdrucksstarken Gedichte gehen unter die Haut und sind ein Beleg dafür, dass es für eine emanzipatorische Entwicklung der kollektiven Erinnerung bedarf.

Zur Autorin: Koleka Putuma wurde 1993 in Port Elisabeth, Südafrika, geboren, erwarb an der University of Cape Town den Bachelor of Arts in Theatre & Performance und wurde 2014 die erste National Slam Champion Südafrikas. Im gleichen Jahr führte sie ihr Theaterstück "Uhm" auf und inszenierte 2015 mehrere Stücke am Magnet Theatre und trat als Spoken-Word-Künstlerin hervor. 2018 war sie in der Forbes-Liste der "30 meistversprechenden afrikanischen Kreativen". Sie schreibt ebenfalls Theaterstücke für Kleinkinder und Babys. Mit "Kollektive Amnesie" wurde sie auch in den USA und Europa bekannt und lebt in Kapstadt.

Die Autorin im Netz: www.cocoputuma.wordpress.com

Auszeichnungen
2019 Distell National Playwright Competition
2018 Gewinnerin des Glenna Luschei Preis für Afrikanische Poetry
2018 SCrIBE Scriptwriting Comptetition
2018 vorgeschlagen für den Ingrid Jonker Preis
2017 Mbokodo Rising Light Award
2017 City Press Buch des Jahres
2017 A Sunday Times Book
2016 PEN South Africa Student Writing Prize für das Gedicht "Wasser"
2014 Standard Bank Ovation Award beim National Arts Festival für Uhm
2014 National Poetry Slam Championship, South Africa

Zum Übersetzer: Paul-Henri Campbell, 1982 in Boston geboren, ist ein deutsch-amerikanischer Schriftsteller, der Lyrik und Prosa schreibt und für seinen Gedichtband "nach den narkosen" 2017 den Bayerischen Kunstförderpreis und 2018 den Förderpreis des Hermann-Hesse-Literaturpreises erhielt.

Zur Herausgeberin Indra Wussow, Herausgeberin der Reihe AfrikAWunderhorn, studierte Literaturwissenschaft, lebt in Johannesburg/Südafrika sowie auf Sylt. Sie arbeitet als Autorin, literarische Übersetzerin und Kuratorin für verschiedene internationale Einrichtungen. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt im Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst. 2002 gründete sie die Kulturstiftung Sylt Foundation, die interdisziplinäre internationale Kulturprojekte entwickelt und durchführt.

Koleka Putuma
Kollektive Amnesie

Originaltitel: Collective Amnesia
Im englischen Original mit deutscher Ãœbersetzung
Ãœbersetzung: Paul-Henri Campbell
Herausgeberin: Indra Wussow
Das Wunderhorn, erschienen: Januar 2020
Hardcover, gebunden, 208 Seiten
ISBN-13: 978-3884236130
22,-- Euro
Mehr zum Buch unter: www.wunderhorn.de

Weitere Infos unter:

YouTube - Vorstellung von "Kollektive Amnesie"
Diskussion mit Koleka Putuma, moderiert von Upile Chisala, Autorin und Soziologin aus Malawi (auf Englisch).

YouTube Diskussion zu Lyrik, Literatur und "Kollektive Amnesie".
Mit Koleka Putuma diskutiert Sho Madjozi, südafrikanische Rapperin, Sängerin, Schauspielerin und Dichterin.

www.okayafrica.com/koleka-putuma
Artikel (auf Englisch) auf der digitalen Medienplattform "OkayAfrica" über das neue Gedicht "Every Three Hours" von Koleka Putuma. Sie bezieht sich dabei auf eine offizielle Statistik von 2019, die besagt, dass alle drei Stunden eine Frau in Südafrika ermordet wird.

www.okayafrica.com/femicide-gender-based-violence
Der Artikel "How a Global Pandemic Has Failed to Stop South Africa´s Gender-Based Violence and Femicide Crisis" (Englisch), geschrieben am 10. Juli 2020 von Rufaro Samanga (Journalistin und Epidemologin), berichtet von Gesprächen mit Frauen in Führungspositionen über Gender-bezogene Gewalt und Femizide in Südafrika während dem fortgesetzten nationalen Lockdown.

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Literatur

Beitrag vom 23.02.2021

Helga Egetenmeier