Tuvia Tenenbom - Allein unter Briten. Eine Entdeckungsreise - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 14.11.2020


Tuvia Tenenbom - Allein unter Briten. Eine Entdeckungsreise
Sigrid Brinkmann

Mit den Augen eines "Touristen vom Mars" hat der Dramatiker und Gründer des Jewish Theater of New York und Journalist Tuvia Tenenbom das Leben im Vereinigten Königreich betrachtet. Er staunt über die Selbstverliebtheit der Engländer und den alltäglichen Antisemitismus.




2012 erschien sein Reisebericht "Allein unter Deutschen". Monatelang war Tuvia Tenenbom - als Sohn eines Rabbiners in Jerusalem aufgewachsen, seit vielen Jahren Journalist und Theatermacher in New York - kreuz und quer durch Deutschland gereist, um herauszufinden, was die Deutschen denken, welche Marotten sie pflegen und wie antisemitisch sie sind. Seine "Entdeckungsreise" wurde ein unerwarteter Verkaufserfolg und seither legt Tuvia Tenenbom nach. Er bewegte sich "allein unter Juden" in Israel, "allein unter Amerikanern", "allein unter Flüchtlingen" und zuletzt unter Briten.

Ein Interview, das der israelisch-amerikanische Journalist Tuva Tenenbom mit Peter Willsman aus dem Leitungsgremium der Labour-Partei aufgezeichnet hatte, führte 2019 zu dessen Suspendierung. Willsman hatte sich zu der Behauptung verstiegen, es gäbe ein Parteimitglied, dass im Auftrag der Israelische Botschaft handele und antisemitische Tiraden provoziere. In "Allein unter Briten" beschreibt Tenenbom, warum ein Interview mit Jeremy Corbyn nicht zustande kam. Und nun wurde im Oktober 2020 auch Labour-Chef Corbyn ersetzt. Die Partei untersagt ihm auch, im britischen Unterhaus als Labour-Abgeordneter abzustimmen. Corbyn will gegen den Ausschluss vorgehen.

Um die Geistes- und Gemütsverfassung einer Gesellschaft zu erforschen, gibt es für Tuvia Tenenbom kein geeigneteres Mittel als das Reisen. Dabei verlässt er sich bei der Routenplanung ganz auf Intuition und Tageslaune. Tenenboms Bewegungslust hat etwas Verschwenderisches, doch sie erweist sich als äußerst effizient. Soziale Gefälle im Land und Mentalitätsunterschiede werden durch den Zickzackkurs, den er einschlägt, augenfälliger. Um seinen Gesprächspartner/innen die Redehemmung zu nehmen, gibt der Entdeckungsreisende sich häufig andere Namen. Mal nennt er sich Tobias, mal -

"König Tabbas Abdul Rahman ibn Mohammed II., Adrian, Ahmad, Florian, Tuvia."

...und behauptet, er sei –

"Jordanier, Österreicher, Niederländer, Deutscher oder Amerikaner".


Jude, Moslem oder Protestant. Tenenbom hat mit Taxifahrern, Pizzalieferanten und Lords des britischen Oberhauses geredet, er hat Theater besucht, traf Fernsehprominenz, Kleriker, Buchhändler/innen, Klempner und Leave-Demonstranten, sprach mit Soldaten, Müttern, Biertrinkern, Adligen und Verarmten über: den Brexit, Fußball, Religion, Gender und Sex. Eine Frage drängte sich bei der Recherche sehr bald in den Vordergrund:

"Warum legen die Menschen auf den Britischen Inseln solche Energie für den Konflikt zwischen Palästina und Israel an den Tag? Keine Ahnung!"

Schekel für die Bank of England

Nun, Großbritannien ist das Land, in dem die Kampagne, die den wirtschaftlichen und kulturellen Boykott Israels forciert, Wirkung zeigt. Sich ahnungslos zu stellen, gehört zum Prinzip des suchenden Reporters. Auch scheut er sich nicht, einfach nur zu fragen, wo man "gute und nette Menschen" treffen könne. Von einem "waschechten englischen Gentleman" wollte er wissen, warum der 11. November ein nationaler Feiertag ist.

"Um an die Gefallenen (des Ersten Weltkriegs) zu erinnern. Außerdem ist es gut für den Tourismus, so kommen Schekel in die Kasse."

Schekel? Sind Sie Jude? "Nein, ich bin Engländer." Warum haben Sie Schekel gesagt?

George antwortet nicht, und ich kann keine Antwort für ihn geben. Aber mir ist schon öfter aufgefallen, dass manche das Wort Schekel verwenden, die israelische Währung, wenn sie über Geld sprechen, weil – wie wir alle wissen – die Juden gut mit Geld umgehen können.

George geht es finanziell ausgezeichnet, danke der Nachfrage."

Kein Mitleid mit den Bequemen und Mutlosen

Als Tuvia Tenenbom das Vereinigte Königreich im Winter 2018/2019 durchkämmte, druckte die Presse täglich neue Geschichten über den Antisemitismus in der Labour- Partei. Um herauszufinden, wie die Stimmungslage unter Juden und Jüdinnen im United Kingdom ist, suchte Tenenbom auch das Gespräch mit Student/innen der Gateshead Jeshiwa. Sie ist die größte jüdische Hochschule in Europa.

"1190, so erzählen sie mir, sei die gesamte jüdische Gemeinde von York massakriert worden, einhundertfünfzig Menschen. Das Blutbad wurde unter der Bezeichnung "Pogrom von York" bekannt und hat an einem Ort stattgefunden, der lange Zeit Jewbury hieß und heute Clifford´s Tower genannt wird.

Jewbury. Judengrab. Was für ein Wort.

(...) Die heutigen Juden, durch die ständigen Berichte über Antisemitismus in der britischen Labour Party beunruhigt, leben in Angst. Sie fürchten, erneut abgeschlachtet zu werden.
Und bis dahin essen sie furchtbares Essen, das wie eingeschlafene Füße schmeckt.
Tun sie mir leid? Überhaupt nicht. Sie könnten jederzeit die Insel verlassen, aber sie tun es nicht. "Das Leben hier ist bequem", sagen sie mir. Meiner Meinung nach brauchen sie einen Psychiater."


Der Oberrabbiner des Kingdom wich einer Begegnung mit Tenenbom aus. Das jüdische Parlamentsmitglied Louise Ellmann, gerade von Prinz Charles in den Adelsstand erhoben, empfing ihn zuhause in Liverpool. Ellmann, die seit Jahrzehnten Labour die Treue hält, wurde von Jeremy Corbyn wiederholt als "die ehrenwehrte Abgeordnete für Tel Aviv" angesprochen.

"Ich würde Sie gerne etwas fragen, sage ich zur Dame Commander, und bitte antworten Sie mit Ja oder Nein."

Sie lacht. Ist Jeremy Corbyn Antisemit, ja oder nein?

Ich sitze über eine Stunde mit ihr zusammen, und nicht einmal sagt sie, was sie denkt. Das ist umso bizarrer, als völlig offensichtlich ist, was sie denkt – ihr Mann hat es ausgesprochen. Aber sie will nicht. Keine Chance. Ich merke, es wäre einfacher, einen Hund dazu zu kriegen, Jiddisch zu sprechen, als eine Jüdin die Dinge beim Namen zu nennen."

Zu Tisch mit "Corbyns Vollstrecker"

Tenenbom geht die Mutlosigkeit jüdischer Brit/innen auf die Nerven. Nach jeder Begegnung mit ihnen musste er sich bei einem guten Essen wieder in Schwung bringen. Und siehe da, der Zufall wollte es, dass er im Restaurant eines Fünf-Sterne-Hotels in Oxford, von Tisch zu Tisch, mit "Corbyns Vollstrecker" ins Gespräch kam. "Red Pete", wie sich der Mann aus dem Leitungsgremium der Labour-Partei nannte, war bereit, ein Interviewtreffen mit Jeremy Corbyn zu arrangieren. Doch ein erster Kontakt kam überraschenderweise früher zustande. Am Holocaust-Gedenktag, dem 27. Januar 2019, entdeckte Tenenbom den Widersacher im Queen Elizabeth II Centre gegenüber von Westminster Abbey.

"Er wird von zahlreichen Damen und zwei antizionistischen chassidischen Juden umringt, von denen einer ihn zur Toilette und zurück eskortiert.
Er mag ein Heiliger sein, aber auch er muss pinkeln. Und wer wäre besser geeignet, ihm Erleichterung zu verschaffen, als ein antizionistischer Jude?
Jeremy Corbyn. Genau hier. Mir nicht von Red Pete, sondern von den Engeln des Holocaust auf dem Silbertablett serviert. (...)
Tja, was soll ich machen? Ich sehe JC tief in die Nase, um herauszufinden, ob sie ein wenig hakennasig ist, und stelle mich als deutscher Journalist vor. (...)
Würden Sie mir ein Interview geben?, frage ich. "Das machen wir", antwortet er und schickt mich zu einer seiner Damen, die er als "extrem effizient. Sie ist so effizient wie die Deutschen" beschreibt.
Wir verstehen uns, Satan und meinereiner. Und wir plaudern ein wenig."


Und wir Leser/innen betrachten ein Foto, das den Autor dicht an dicht mit Jeremy Corbyn zeigt. Tenenbom sieht vergnügt aus. Er hat einen Arm um die Schulter des Politikers gelegt. Corbyn zeigt ein schiefes Lächeln und zwinkert mit einem Auge. Wie Tenenbom das arrangierte Treffen mit dem Labour-Chef letztlich verpatzte, weil er – einen Moment unaufmerksam – in dessen Büro seine wahre Identität preisgab, ist eine Geschichte für sich. Er nahm die Fehlleistung nicht schwer. "Corbyns Vollstrecker" musste zahlen.

"Labour suspendiert das NEC-Mitglied Red Pete, nachdem dessen Gespräch mit mir öffentlich bekannt wurde."

Der Brexit als Offenbarung

Tenenbom hat Irland bereist, Schottland und Wales, wo Hass auf England traditionell verwurzelt ist. Dass viele Waliser/innen sich der Armut und einem Leben in der Abgeschiedenheit ergeben, hat den New Yorker Autor zutiefst angerührt.

"Die Kluft (in der früheren Kupfermine) Parys Mountain ist ein Sinnbild der Kluft in London. (...) Der Riss durch die britische Gesellschaft geht tief und zwingt beide Seiten in Parallelwelten hinein, die in den kommenden Generationen nicht wieder zusammenwachsen werden; aber der Brexit hat den inneren Hass und die Feindseligkeiten nicht verursacht, er hat sie nur offenbart."

"Die Engländer sind die größten Schauspieler auf dem Planeten"

Tuvia Tenenbom erklärt nichts. Sein Buch zeigt Ungereimtheiten im Verhalten der Inselbewohner/innen auf, Loyalitätskonflikte, begründete und irrationale Ängste, warmherzige wie hässliche Züge, einen tief sitzenden Antisemitismus und offenbar viel Selbstwertschätzung. Tenenbom, sarkastisch gelaunt, resümiert:

"Die Engländer, die mächtigste Nation auf der Insel, sind die größten Schauspieler auf dem Planeten, wenn auch nicht unbedingt auf der Bühne, und man kann darauf wetten, dass sie einen zum Narren halten. Es geht ihnen gut, besten Dank, und sie müssen niemanden heiraten. Sie werden es irgendwie schaffen, Kinder aus Bäumen zu schnitzen, keine Sorge."

Zum Autor: Tuvia Tenenbom wurde 1957 in Tel Aviv geboren, stammt aus einer deutsch-jüdisch-polnischen Familie und lebt seit 1981 in New York. Er studierte unter anderem englische Literatur, angewandte Theaterwissenschaften, Mathematik und Computerwissenschaften sowie rabbinische Studien und Islamwissenschaften, unter anderem an der St. John´s University und an der New York University. Er arbeitet als Journalist, Essayist und Dramatiker und schreibt für zahlreiche Zeitungen in den USA, Europa und Israel, darunter für Die Zeit, den italienischen Corriere della Sera und Yedioth Ahronoth aus Israel. 1994 gründete er das Jewish Theater of New York. "Allein unter Deutschen" war sein erstes Buch auf Deutsch, es erschien 2011 auf Englisch unter dem Titel "I Sleep in Hitler´s Room". (Verlagsinformationen)
Der Autor im Netz: twitter.com/tenenbom und auf der Webseite des von ihm gegründeten Jewish Theater of New York: jewishtheater.org

Tuvia Tenenbom
Allein unter Briten - Eine Entdeckungsreise

Originaltitel: Alone among the brits
Ãœbersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Karen Witthuhn
Mit Fotos von Isi Tenenbom.
Suhrkamp Verlag, Berlin
501 Seiten. 16,95 Euro.
Mehr zum Buch unter: www.suhrkamp.de

Diese Rezension wurde uns von der Journalistin Sigrid Brinkmann freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Sie hat den New Yorker Publizisten Tuvia Tenenbom getroffen und für die Sendung "Büchermarkt" beim Deutschlandfunk einen Beitrag gemacht: srv.deutschlandradio.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Tuvia Tenenbom - Allein unter Deutschen. I Sleep in Hitler´s Room
Er sei ein Deutscher, behauptet Tuvia Tenenbom immer, wenn er arabische Länder bereist. So steht es zumindest in der Vorbemerkung zu seinem Buch. Warum? Weil ihm ein jordanischer Gastgeber einmal sagte, er würde ihn auf der Stelle töten, wenn er ein Jude wäre. (2012)





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Beitrag vom 14.11.2020

AVIVA-Redaktion