Ali Smith – Winter - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 30.11.2020


Ali Smith – Winter
Bärbel Gerdes

Endlich liegt der zweite Band ihrer großen Jahreszeiten-Tetralogie vor! Ali Smith imaginiert in "Winter" ganz besondere Weihnachtstage im Familien- und Fremdenkreis. In unserem gegenwärtigen Changieren von echt und falsch, der allgemeinen Verunsicherung zwischen Fake und Realität ist auch Smith´ Personal nicht unbedingt das, was es zu sein scheint.




Sophia Cleves sieht seit einigen Tagen einen Kopf. Er schwebt vor ihr, liegt neben ihr auf dem Kopfkissen, begleitet sie von Raum zu Raum. Ein Kinderkopf? Ein Stein? Der Kopf eines alten Mannes?
Sophia ist Unternehmerin im Ruhestand, die einsam in einem riesigen Haus in Cornwall lebt – und Weihnachten naht.

Ihren Sohn Art setzt das unter Druck. Denn Charlotte, seine Liebste, hat ihn verlassen – für ihn ein Fiasko, hatte er seiner Mutter doch versprochen, mit ihr Weihnachten nach Cornwall zu kommen – obgleich seine Mutter Weihnachten gar nicht feiern möchte.
Kurzerhand kauft sich Art die Dienste von Lux, einer arbeitslosen, nach England eingewanderten Frau, die er zufällig an einer Bushaltestelle trifft. 1.000 Pfund bietet er ihr, wenn sie ihn über die Weihnachtstage nach Cornwall begleitet, sich als Charlotte ausgibt und ihn so sein Gesicht wahren lässt.

Dann ist da noch Iris, Sophias Schwester, die Rebellin, die auf jeder Demo war, ewig in Greenham Common campierte und sich immer noch politisch engagiert und kämpft. Das Verhältnis zwischen den beiden Schwestern ist nicht das Beste – seit Jahrzehnten haben sie keinen Kontakt.

Und selbst der Winter ist kein richtiger Winter mehr: zu warm, zu feucht, zu grau.

Dies also ist das Setting in Chei Bres, jenem Haus, das früher Iris FreundInnen und MitstreiterInnen bewohnten und das Sophia irgendwann kaufte.

In ihrem 2017 in Großbritannien erschienenen zweiten Teil ihrer Jahreszeiten-Romane besieht sich Ali Smith von allen Seiten die Gegenwart, die geprägt ist von Zukunft und Vergangenheit. Was bedeutet es am Leben zu sein, samt seinem Gestern, Heute und Morgen, fragt sie und antwortet – an dieser Stelle nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch an Virginia Woolf erinnernd: dass [das Leben] vor allem in den Augenblicken nahezu unverfälscht ist, in denen man aus einer tiefen Erstarrung oder Vergessenheit auftaucht, die einem selbst gar nicht bewusst war, und wieder an die Oberfläche kommt.

Und auch ihre ProtagonistInnen blicken zurück und nach vorn.
Art, der einen Nature Writing Blog hat, obgleich er sein Zimmer kaum verlässt, wird gequält von seiner Ex-Freundin Charlotte, die sich seines Blogs bemächtigt und nun Meldungen über unwahrscheinliche Sichtungen von Pflanzen und Vögeln verbreitet, was einen Shitstorm auslöst – aber auch zu beträchtlich mehr Followern führt.
Derweil streiten sich die beiden Schwestern um gemeinsame Erinnerungen. War Art als Kind tatsächlich so oft bei Iris, wie diese behauptet, was Sophia bestreitet? Stimmen Arts Erinnerungen oder doch eher die Erzählungen seiner Mutter?
Lux entpuppt sich als Glücksfall für diesen Weihnachtsabend voller Streitereien und Uneinigkeiten. Sie hört genau zu, beobachtet scharf, nimmt unangenehme Spannungen heraus.
Ihre Camouflage fliegt schnell auf. Ihre Motivation nach England zu kommen, begründet Lux mit Shakespare und seinem Stück Cymbeline: Wenn dieser Autor aus diesem Land dieses verrückte und bittere Chaos zu solcher Schönheit führen kann,… dann gehe ich in dieses Land, In dem Stück geht es um ein Königreich, das in Chaos, Lügen, Machtgeschacher und Uneinigkeit versinkt … in dem jeder vorgibt, jemand anders oder etwas anderes zu sein. Und schon sind wir in der Gegenwart.

Grandios springt Smith zwischen den Zeiten hin und her, erzählt en passant die fesselnde Geschichte des Widerstandcamps Greenham Common oder stellt die bedeutende Bildhauerin Barbara Hepworth vor, während sie uns mit viel Wortwitz und Humor am Weihnachtsfest in Cornwall teilnehmen lässt.

Doch nie verliert sie die Gegenwart aus den Augen, diese uneinige Zeit, diese Zeit des Die und Wir, in der zunehmend gespalten und ausgegrenzt wird.

Ali Smith´ Tetralogie lebt von der engen Verzahnung von Schreiben und Veröffentlichen. Ihr Plan war es ja gerade, die Zeit dazwischen so kurz wie möglich zu halten, quasi einen Roman in Realtime erscheinen zu lassen. Obgleich Winter nun mit drei Jahren Verspätung auf dem deutschen Markt erscheint, hat es an Aktualität und Bedeutsamkeit nichts eingebüßt, was einmal mehr zeigt, was für eine außergewöhnliche Schriftstellerin Smith ist.

AVIVA-Tipp: Der zeitliche Verzug hat auch sein Gutes: Wenn uns heute nach Demütigung ist, haben wir zu unserer Unterhaltung Reality-TV. Und bald werden wir anstelle von Reality-TV den Präsidenten der Vereinigten Staaten haben, sagt Iris - eine feine Ironie, dass endlich der Winter des Mr. Trump angebrochen ist.

Zur Autorin: Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht, ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Für ihr Debüt »Freie Liebe und andere Geschichten« wurde sie 1995 mit dem Saltire First Book Award ausgezeichnet. Inzwischen hat sie zahlreiche weitere renommierte Preise erhalten, zuletzt 2015 den Baileys Women´s Prize for Fiction. All ihre Bücher widmet Ali Smith ihrer Lebenspartnerin Sarah Wood, mit der sie seit über 20 Jahren zusammenlebt. (Quelle: Random House). Die Fortsetzungen der Tetralogie Winter (2017), Spring (2019) und Summer (2020) sind bereits erschienen. Die deutsche Ausgabe von Frühling erscheint im Frühjahr 2021.

Zur Übersetzerin Silvia Morawetz: geb. 1954 in Gera, studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik und ist die Übersetzerin von u.a. Janice Galloway, James Kelman, Hilary Mantel, Joyce Carol Oates und Anne Sexton. Sie erhielt Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds, des Landes Baden-Württemberg und des Landes Niedersachsen.

Ali Smith
Winter

Originaltitel: Winter (erschienen 2017)
Aus dem Englischen von Silva Morawetz
Luchterhand Verlag, erschienen am 2. November 2020
320 S., gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-630-87579-8
22,00 €
Mehr zum Buch: www.randomhouse.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Ali Smith – Herbst
Der erste Band ihrer Jahreszeiten-Tetralogie führt die Leserin in ein zutiefst gespaltenes Großbritannien, in dem die BewohnerInnen sich misstrauisch beäugen und Abschied nehmen von dem, wie es vorher war. Indes nimmt Elisabeth leise Abschied von ihrem hundertjährigen Freund, der in einem Dazwischenreich dämmert. Die schottische Autorin Ali Smith brilliert erneut mit einem berührenden und fantasievollen Roman. Großartig übersetzt von Silvia Morawetz. (2020)

Ali Smith - Freie Liebe und andere Geschichten und Ali Smith - Ganz andere Geschichten
Ihre Romane haben bereits eine große Fangemeinde in Deutschland. Jetzt erscheinen die bereits 1995 preisgekrönten Kurzgeschichten der schottischen Autorin auf dem deutschsprachigen Markt. Dabei gelingt es Ali Smith mit feiner Feder, scheinbar alltägliche Szenen auf kleinstem erzählerischen Raum in eindringliche und eigenwillige Abenteuer zu verwandeln. (2017)

Ali Smith - Von Gleich zu Gleich
Von der Autorin des mit dem Whitbread Award ausgezeichneten Romans "Die Zufällige". Wer ist diese Amy Shone, die Engländerin, die mit ihrer kleinen Tochter Kate zurückgezogen in einem schottischen Trailer Park lebt? Sie erzählt nichts von ihrer Vergangenheit, sie kann weder lesen noch schreiben und schlägt sich trotz ihrer wohlhabenden Familie am Rande des Existenzminimums durch. (2014)

Ali Smith. Girl meets boy - Der Mythos von Iphis
Die Geschichte einer und mehrerer Lieben. Wunderbar leichtfüßig thematisiert die Autorin die Frage nach dem, was ein Geschlecht eigentlich ausmacht. Voller Kraft und Witz! (2008)

Ali Smith - Im Hotel
Nach "Die Zufällige" erneut ein brillanter Roman von Ali Smith. "Im Hotel" zeichnet verstörend schöne Bilder des Gefühlslebens von fünf Frauen auf. Vier lebende und der Geist einer Verstorbenen begegnen einander. (2008)

Ali Smith – Die Zufällige
Amber ist leuchtend aber undurchschaubar – gleich einem Bernstein. Der Roman spielt mit den gängigen Rollenklischees einer relativ normalen Familie und durchbricht sie schneller, als erwartet...(2007)

Posy Simmonds – Cassandra Dark
In ihrem neuen Comic über eine Londoner Kunsthändlerin vereint die britische Cartoonistin, Schriftstellerin und Illustratorin Posy Simmonds Dickens´sche Weihnachtsgeschichte, Krimi und kleine Nadelstiche gegen den Kunstbetrieb zu einem anregenden Augenschmaus. Die Protagonistin trägt ihr Schicksal schon im Namen. (2019)






Literatur

Beitrag vom 30.11.2020

Bärbel Gerdes