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Beitrag vom 29.11.2020
Alice Schwarzer - Lebenswerk
Silvy Pommerenke
Die EMMA-Herausgeberin und Publizistin Alice Schwarzer ist streitbar in manchen ihrer Thesen, aber enorm wichtig für die Frauenbewegung. Mehr als achtzig Prozent der Deutschen kennen sie, und nicht nur für die fehlenden zwanzig Prozent hat sie ihre Autobiografie geschrieben. Darin beschreibt sie ihre politischen Arbeitsfelder, auf denen sie seit gut fünfzig Jahren nach wie vor unermüdlich kämpft.
"Lebenswerk" ist die Fortsetzung der Autobiografie "Lebenslauf" von Alice Schwarzer, die 2011 erschien. Während sie im ersten Buch die Jahre bis 1977 beleuchtet, widmet sie sich nun ihrer publizistischen und politischen Aktivität ihres Lebens. Sie beginnt mit der Veröffentlichung "Der kleine Unterschied" aus dem Jahr 1975, der sich zum Longseller entwickelt hat und nach wie vor auf großes Interesse stößt, und endet bei den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015.
Dabei geht sie nicht chronologisch vor, wie in einer klassischen Autobiografie, sondern wendet sich verschiedenen Themenschwerpunkten zu, die sie in den letzten Jahrzehnten bearbeitet oder erlebt hat. Die Leser*in erfährt so, dass sie seit Jahrzehnten unregelmäßig regelmäßig Kontakt zu Angela Merkel hat, erhält Einblick über den aktuellen Diskurs über die Vielfalt von sexuellen Identitäten und dessen Auswirkung auf die gesellschaftliche Ordnung. Sie schildert den Kampf gegen das Abtreibungsverbot bis hin zu der Anti-Porno-Kampagne "PorNo". In einem weiteren Kapitel setzt sie sich mit dem Zusammenhang von Judenhass und Frauenhass auseinander und zitiert dabei die französische Reformrabbinerin Delphine Horvilleur, die der Ansicht ist, dass "der Antisemitismus in Wirklichkeit ein Problem der Männlichkeit (ist)", und dass "der Antisemitismus … auch ein Krieg der Geschlechter" sei. Alice Schwarzer hat sich früh mit dem Thema Antisemitismus auseinandergesetzt, dafür in der EMMA mit regelmäßigen Beiträgen ein Forum geschaffen und stand mit Charlotte Knobloch und Ignatz Bubis in freundschaftlichem Kontakt.
Nicht zuletzt beschreibt sie, wie schwer die Gründung der "Emma" war, wie viel Kämpfe es gekostet hat, das Magazin am Laufen zu halten und wie belastend es manchmal ist, permanenten Anfeindungen ausgesetzt zu sein. Die Teilzeit-Pariserin verrät zudem mit einem Blick hinter die Kulissen, wie der Redaktionsalltag in der "Emma" aussieht, und schildert die spannende Entwicklungsgeschichte des Magazins von Frauen für Frauen.
Alice Schwarzer hat unglaublich viel für die Frauenemanzipation getan, und ohne sie wären wir mit Sicherheit nicht an dem Punkt, an dem wir heute stehen. Das hat ihr Unmengen an Ärger eingebracht, nicht nur von männlicher Seite, sondern auch aus den eigenen Reihen der Frauen. Symbolisch dafür stehen die Schlammschlachten mit Esther Vilar oder Verona Feldbusch, die ihrerzeit medial ausgeschlachtet wurden.
Die Feministin der Zweiten Frauenbewegung geht unter anderem auf den Konflikt zwischen den so genannten Alt-Feministinnen und den so genannten Jung-Feministinnen ein, sie beschreibt den Kampf für das Legalisieren von Abtreibungen, schildert den Einsatz für die PorNo-Kampagne, oder setzt sich mit dem brisanten Thema der Islam-Kritik auseinander. Das sind alles gesellschaftliche Wunden, in die sie ihren Finger legt und dadurch Veränderungen bewirkt hat und immer noch bewirkt.
Den Abschluss der Biografie bilden Schlüsseltexte aus ihrer 50-jährigen Schaffensphase. Gerade die frühen Texte aus den Siebziger Jahren zeigen, wieviel sich zum Positiven in der Frauenemanzipation verändert hat (wofür Alice Schwarzer maßgeblich verantwortlich ist). Sie zeigen aber auch, dass sich manche Dinge scheinbar nie ändern werden (unbezahlte Care-Arbeit wird zum größten Teil von Frauen erledigt, die Gender-Pay-Gap ist noch längst nicht aufgehoben, Misogynie ist weiterhin gesellschaftsfähig). Umso wichtiger ist es, dass die kämpferische Alice Schwarzer sich auch in Zukunft nicht kleinkriegen lässt, und der stachelige Dorn bleibt, der ihr Markenzeichen ist.
AVIVA-Tipp: Das "Lebenswerk" von Alice Schwarzer ist nicht nur ein persönlicher Rückblick, sondern auch eine historische Darstellung der Frauen- und Lesbenbewegung und Emanzipation von Frauen in Deutschland. Dank der Kämpfe, die Alice Schwarzer und ihre Mitstreiterinnen ausgefochten haben und immer noch ausfechten, hat es viele Verbesserungen für die gesellschaftliche und politische Rolle der Frau gegeben. Aber: der Kampf ist noch längst nicht vorbei!
Zur Autorin: Alice Schwarzer, geboren 1942 in Wuppertal, wo sie bei ihren Großeltern aufwächst. In ihrer Zeit als politische Korrespondentin in Paris war sie zu Beginn der 1970er Jahre eine der Pionierinnen des Mouvement de la liberation des femmes (MLF). Ihre Gespräche mit Simone de Beauvoir in den Jahren 1971-1983 erschienen als Buch in mehreren Sprachen. 1971 initiierte sie in Deutschland die Aktion „Ich habe abgetrieben – und fordere das Recht für jede Frau dazu“. Der Kampf gegen Abtreibung wurde zum Auslöser für die deutsche Frauenbewegung. 1977 gründete sie das politische Frauenmagazin EMMA, dessen Verlegerin und Chefredakteurin sie bis heute ist. Sie veröffentlichte zahlreiche Bücher, darunter 1975 den in 12 Sprachen übersetzten Bestseller "Der kleine Unterschied und seine großen Folgen", sowie Biografien u.a. über Gräfin Dönhoff und Romy Schneider. Über den Islamismus veröffentlichte Schwarzer seit 1979 zahlreiche Artikel und Bücher, u.a. "Die große Verschleierung. Für Integration, gegen Islamismus" (2010) oder "Der Schock – Die Silvesternacht von Köln" (2016). 2011 erschienen ihre Lebenserinnerungen "Lebenslauf" und zuletzt "Meine algerische Familie" (2018).
Neben etlichen Auszeichnungen und Preisen erhielt Alice Schwarzer unter anderem den Zivilcouragepreis des CSD Berlin, das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland oder den Ludwig-Börne-Preis. Sie ist mit der Fotografin Bettina Flitner verheiratet und lebt sowohl im Bergischen Land als auch in Paris.
Alice Schwarzer und die EMMA im Netz:
www.aliceschwarzer.de und www.emma.de
Alice Schwarzer - Lebenswerk
Kiepenheuer & Witsch Verlag, Erscheinungstermin 10/2020
Gebunden, 480 Seiten
ISBN 978-3-462-05436-1
Euro 25,00
Mehr zum Buch unter: www.kiwi-verlag.de
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