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Beitrag vom 11.10.2020
Rebecca Solnit – Unziemliches Verhalten. Wie ich Feministin wurde
Isabel Rohner
Vergessen Sie den deutschen Titel, der mit dem Inhalt dieses Buches wirklich nichts zu tun hat. "Recollections of My Nonexistence" - so der Originaltitel – ist eines der besten, klügsten, berührendsten Bücher dieses Jahres. Rebecca Solnit nimmt uns mit in ihre eigene Geschichte und deckt dabei die Strukturen des Unsichtbarmachens von Frauen auf.
Zugegeben: Einen treffenden deutschen Titel für dieses brillante Buch zu finden, wäre nicht ganz einfach gewesen: "Recollections of My Nonexistence". Ich bin allerdings sicher, dass Kathrin Razum, die hervorragende Übersetzerin dieses Buches von Rebecca Solnit, Vorschläge gemacht hat. "Erinnerungen an meine Nichtexistenz" vielleicht? Leider hat sich der Verlag dagegen entschieden und schickt seine Leserinnen und Leser erstmals auf eine völlig falsche Fährte.
Dabei geht es Rebecca Solnit genau darum, in Rückblicken auf ihre Zeit als Studentin. später als Mitarbeiterin in einem Museum, bei einer Kunstzeitschrift und als junge Autorin in San Francisco ein Gefühl zu beschreiben, das sie prägte: das schmerzhafte Erkennen ihrer Nichtexistenz. Die Nichtexistenz von Frauen draußen auf den Straßen, im Beruf, in der Kunst. Die Nichtexistenz von Frauen in einer männerdominierten Gesellschaft.
Solnit beschreibt, wie sie als Bücherliebende, zurückgezogen lebende Studentin in einer Stadt erwachsen wird, in der es "normal" ist, dass Frauen keine Rolle spielen: nicht in der Wirtschaft, nicht in der Kunst, nicht in den Namen der Straßen, Plätze und Denkmäler. Stattdessen lebt sie in einer Stadt, in der Übergriffe auf Frauen, ja sogar Morde völlig alltäglich sind. Oft passieren sie sogar in aller Öffentlichkeit, sind nicht der Rede wert. Jede Frau, die sich allein draußen bewegt, muss jederzeit damit rechnen. Eine Struktur, ein gesellschaftliches Problem, scheint dahinter niemand zu sehen. Frauen haben in dieser Welt kein Anrecht auf Respekt, weil sie in den Augen der Täter gar nicht erst als Persönlichkeiten existieren. Und da sie nicht existieren, haben Männer das Anrecht über die Frauen zu verfügen, sie auf der Straße anzusprechen, sie zu verfolgen, sie zu belästigen, sie zu ermorden. Die Presse macht daraus eine Liebesgeschichte, in der das Verhalten des Opfers dem "Verliebten" keine andere Wahl ließ. Wenn die Presse denn überhaupt berichtet.
Auch in den Situationen, in denen Solnit selber Übergriffe erlebt, fehlen ihr im wahrsten Sinn die Worte, um sich zu befreien. Als sie von einer Silvesterparty nach Hause spazieren will, wird sie über eine lange Strecke von einem Mann verfolgt, der ihr zuflüstert, wie gefährlich ihr Verhalten ist, so allein in der Nacht. Als ein Auto neben ihr hält und der rettende Fahrer ihr Hilfe anbietet, zögert sie – und auch ihr Verfolger flüstert ihr zu, dass es doch gefährlich sei, in ein Auto eines Fremden einzusteigen. Sie würde sich das alles doch nur einbilden, würde übertreiben, hier sei keine Gefahr. Schließlich vertraut sie ihrem Gefühl und steigt in das rettende Auto. Sprechen kann sie darüber nicht. Da war ja gar nichts.
Diese "Nonexistence", die Solnit stellenweise sogar zart, fast poetisch beschreibt, ist dabei weit mehr als "Unsichtbarkeit": Es ist das unbewusste oder bewusste, ja zum Teil sogar gewaltvolle Absprechen einer Daseinsberechtigung von Frauen. Solange Mädchen von klein auf lernen, bloß nicht zu provozieren, wird ihnen diese Rolle übergestülpt. Nicht zu provozieren und gleichzeitig Existenz für sich zu reklamieren, geht nicht zusammen.
Frauen verschwinden bei der Eheschließung im Namen ihres Mannes, in Popsongs wird ihre Vergewaltigung besungen, in den Klassikern unserer Literaturgeschichte ihr Tod. Unsere Historie, aber eben auch jede individuelle Geschichte – dies zeigt Solnit eindrucksvoll – ist voller Episoden der Nichtexistenz von Frauen.
Solnit erzählt, wie sie als Kunstredakteurin feststellen musste, wie sehr Frauen in der Kunst marginalisiert werden, wie die Fähigkeit des Genies nur Männern zugeschrieben wird. Sogar die Möglichkeit einer Befreiung aus dem hergebrachten Denken, aus einer bürgerlichen Gesellschaft wird nur den männlichen Künstlern zugesprochen. Die Künstlerinnen bleiben namenlos oder werden in Künstlerkollektiven zu Ehefrauen und Putzhilfen degradiert.
Selbst als Autorin erlebte Rebecca Solnit Momente der Nichtexistenz, beispielsweise als Lektoren in ihre Fachbücher versuchen, bewusst Fehler einzubauen, ihrer Expertise nicht geglaubt wird – oder der Chef ihres damaligen Verlages sie über Jahre hinweg partout niemals grüßte. In diesen Kontext passt natürlich auch Rebecca Solnits Essay "Men Explain Things to Me" (2008, auf Deutsch erschienen unter dem Titel "Wenn Männer mir die Welt erklären").
"Unziemlich", wie es der deutsche Titel vermuten ließe (auf dem Cover prangert er auf dem nackten Rückendekolleté einer jungen Frau) ist das Verhalten dieser autobiografischen Hauptfigur übrigens zu keiner Zeit. Oder will der Verlag etwa die patriarchale Gesellschaft in ihrem Handeln als "unziemlich" bezeichnen? Doch auch dann wäre dieser Titel falsch, wäre ein heftiger Euphemismus. "Unziemlich" ist das Verhalten dieser Gesellschaft nicht, sondern feindlich. Und für viele Frauen tödlich.
AVIVA-TIPP: Ein grandios geschriebenes, sehr persönliches und kluges Buch, das eine Welt zeichnet, die wir alle kennen, und das es dennoch schafft, hartnäckige Diskriminierungs-Mechanismen gegen Frauen neu aufzudecken.
Zur Autorin: Rebecca Solnit Jahrgang 1961, jüdisch-amerikanische Autorin, Journalistin, Essayistin und Kulturhistorikerin ist eine der bedeutendsten Essayistinnen und Aktivistinnen der USA. Sie setzt sich für Feminismus, Umweltschutz und Menschenrechte ein. Sie ist Herausgeberin des Magazins "Harper´s" und schreibt regelmäßig Kolumnen für den "The Guardian". Für ihre Werke erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Ins Deutsche übersetzt wurden von ihr bisher "Wenn Männer mir die Welt erklären" (2017), "Die Mutter aller Fragen" (2017), "Wanderlust" (2019) und "Die Dinge beim Namen nennen" (2019).
Mehr zur Autorin: rebeccasolnit.net und www.theguardian.com
Rebecca Solnit
Unziemliches Verhalten. Wie ich Feministin wurde
Originaltitel: Recollections of My Nonexistence
Ãœbersetzt von Kathrin Razum
Hoffmann und Campe 2020
270 Seiten.
Mehr zum Buch unter: www.hoffmann-und-campe.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
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