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Beitrag vom 04.08.2020
Melitta Breznik - Mutter. Chronik eines Abschieds
Helga Egetenmeier
Melitta Breznik, mit mehreren Preisen ausgezeichnete Autorin ("Der Sommer hat lange auf sich warten lassen", "Das Umstellformat"), arbeitet in ihrem Hauptberuf als Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Über die letzten gemeinsam verbrachten Wochen mit ihrer Mutter …
...schreibt sie deshalb sowohl aus der Perspektive der Tochter, Autorin und Ärztin. Sie erzählt vom langsamen Sterben, dem Mutter-Tochter-Verhältnis und der vom Nationalsozialismus geprägten familiären Vergangenheit.
Als Melitta Breznik von der Erkrankung ihrer Mutter erfährt, befindet sie sich gerade in Frankfurt am Main bei der Recherche für ihr neues Buch. Von ihrem Job hat sie sich dafür eine Auszeit genommen, um am Geburtsort ihrer Mutter nach ihrer Familiengeschichte zu forschen. Im Fokus sollte die Lebensgeschichte ihres Vaters stehen, einem Wehrmachtssoldaten und britischen Kriegsgefangenen. "Ich war auf der Suche nach der Katastrophe, deren Schatten ihn als Vater hatten versagen lassen.", schreibt sie dazu. Bereits in ihrem letzten Roman "Der Sommer hat lange auf sich warten lassen" setzt sie sich entlang ihrer Familiengeschichte mit dem Nationalsozialismus und dessen Auswirkungen auf die Nachkriegsgenerationen auseinander.
Ihre Mutter zog Ende der Vierziger Jahre zu ihrem Mann in eine österreichische Kleinstadt, in der sie bis heute lebt. Sie trennte sich mit Anfang Sechzig und mit Hilfe ihrer Tochter von ihm, da er sich zu einem depressiven Quartalstrinker entwickelt hatte. Für Melitta Breznik führte dies jedoch nicht zum Bruch mit dem Vater, sie unterstützte weiterhin beide Elternteile. In ihrem Buch beschreibt sie sich selbst als eine Frau ohne Lebensgefährt*in und Kinder, die bereits der Tod des Vaters erschüttert hat: "Nach Vaters Tod befiel mich ein Gefühl der Leere, ein Gefühl, ´aus der Welt gefallen zu sein´, etwas, wovor ich mich fürchte, wenn dann auch Mutter gegangen ist."
Sterbebegleitung für die Mutter - Zeit haben, nehmen, geben
Heute ist Melitta Breznik leitende Ärztin am Gesundheitszentrum Unterengadin und befasst sich mit integrativer onkologischer und psychosomatischer Rehabilitation. Ihre vorherige berufliche Situation ermöglichte es ihr, ihre Mutter in der Zeit des Sterbens zu begleiten. Sie ist bei den Untersuchungen und der Diagnose "Bauchspeicheldrüsenkrebs in fortgeschrittenem Stadion" dabei. Ihr, wie auch ihrer neunzigjährigen Mutter, die bereits zwei Krebserkrankungen überstanden hatte, wird schnell bewusst, dass sie an dieser Erkrankung sterben wird.
Da Breznik ihre Mutter nicht allein lassen will, zieht sie zu ihr in die kleine Wohnung, kümmert sich um sie und nimmt den sich langsam verändernden Alltag war. "Ihr Dahindösen, ihren Schlaf werde ich unaufdringlich mit den Geräuschen der notwendigen Verrichtungen in Küche und Wohnzimmer begleiten, werde mich mit ihr an früher erinnern, wenn wir gemeinsam alte Fotos betrachten, werde ihr etwas vorlesen, mit ihr Karten spielen, werde versuchen, ihr so gut ich kann die Angst vor dem Tod zu nehmen."
So wichtig ihr die Betreuung und gemeinsame verbleibende Zeit mit ihrer Mutter ist, merkt sie auch, wie die tägliche Pflege und Fürsorge an ihr zehren. Doch ihre Mutter möchte keine unbekannte Pflegerin, und ihr in einer nahen Kleinstadt wohnender Bruder kann sie nicht immer unterstützen. Es gelingt ihr, im Bekanntenkreis ihrer Mutter Unterstützung organisieren, die sie nutzt, um Erholung in abendlichen Spaziergänge zu finden. Auch fängt sie an, Notizen, "kleine Einträge zur Situation", wie sie es nennt, zu machen, die dann die Grundlage ihres Buches wurden.
Um die Toten trauern und an sie erinnern
Ihrer Mutter gegenüber spricht Breznik immer wieder gemeinsame Erinnerungen an, um damit die einstige vertraute Nähe zwischen Mutter und Tochter in die Gegenwart zu holen. Bei diesen Gesprächen über die zurückliegende Familiengeschichte wird ihr auch die Bedeutung der Mutter als Zeitzeugin klar: "Ich frage nach, denn es könnte die letzte Gelegenheit dazu sein."
Breznik nutzt die verbleibende Zeit ebenfalls dazu, Themen anzusprechen, die für sie noch nicht abgeschlossen sind. So reden sie über ihre Abtreibung, die ihr von der Mutter im Alter von Siebzehn aufgezwungen wurde. Und sie führen ein Gespräch über die Mutter ihrer Mutter, die an Schizophrenie erkrankt war und während des Nationalsozialismus in einer psychiatrischen Anstalt "verschwand", wie es die Familie früher sagte. Die Ermordung ihrer Großmutter durch die Nazis war lange ein Tabuthema, über das Breznik mit Hilfe ihrer Mutter recherchierte und in ihrer Erzählung "Das Umstellformat" (2002) verarbeitete. Ihre Mutter spürte noch lange "das Gefühl, durch ihre Mithilfe während der Recherchen etwas Unrechtes getan zu haben". Deshalb war es für Breznik ein besonderes Geschenk, dass ihre Mutter sich noch kurz vor ihrem Tod "für das Buch bedankt, Großmutter würde auf diese Art nicht vergessen werden."
Der intime Einblick, den Melitta Breznik den Leser*innen in den Sterbeprozess ihrer Mutter gewährt, vermittelt Trauer und Trost zugleich. Sie zeigt die behutsame Seite eines Sterbeprozesses, bei dem die Lebensumstände der Angehörigen es erlauben, Abschied zu nehmen. Durch den Hinweis auf die Todesumstände ihrer Großmutter, kontrastiert sie dies mit den vielen, die auch heute noch weltweit durch Hass, Gewalt und Ignoranz getötet werden und so keine Chance auf einen liebevollen Abschied vom Leben haben. Und so ist ihr Buch ebenso ein Appell an die Menschlichkeit, wie es für Cristina Cattaneo in "Namen statt Nummern" die Sichtbarmachung der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge ist. Sie starben allein und gewaltsam und erst die Identifizierungen, die die Rechtsmedizinerin vornimmt, wird es den Angehörigen ermöglichen, um sie zu trauern.
AVIVA-Tipp: Melitta Breznik beschreibt in persönlichen und klaren Worten, wie sie die letzte gemeinsame Zeit mit ihrer Mutter verbringt. Ohne sentimental zu werden, vermittelt sie die emotionale Bedeutung einer liebevollen Sterbebegleitung. Ihre "Chronik eines Abschieds" bietet Trauernden Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit dem Tod, gerade weil jeder Sterbeweg anders ist. Anhand ihrer Familiengeschichte verweist sie auf die Verstorbenen, die keinen sanften Tod hatten und zeigt damit, dass Gesellschaft und Politik die Art und Weise des Sterbens beeinflussen.
Zur Autorin: Melitta Breznik geboren und aufgewachsen in Kapfenberg, Österreich, studierte Humanmedizin in Graz und Innsbruck. Ihre Ausbildung zur Praktischen Ärztin erfolgte in verschiedenen Spitälern und Kliniken in Österreich, sie spezialisierte sich danach zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie in Zürich. Seit 2016 ist sie Leitende Ärztin im Gesundheitszentrum Unterengadin Clinica Curativa, und baute dort den Bereich der psychosomatischen und psychoonkologischen Rehabilitation auf. Ihre literarische Tätigkeit begann 1993, seit dem erfolgten sechs Veröffentlichungen: "Nachtdienst" (Erzählung 1995), "Figuren" (Erzählungen 1999), "Das Umstellformat" (Erzählung 2002), "Nordlicht" (Roman 2009) und "Der Sommer hat lange auf sich warten lassen" (Roman 2013). Sie lebt in Graubünden, Schweiz.
Die Autorin im Netz: www.melitta-breznik.ch
Auszeichnungen
1995: Literaturförderpreis des Stadt Graz
2001: Kulturpreis des Landes Steiermark
2018: Bündner Literaturpreis
2020: ProLitteris-Preis für Literatur
Melitta Breznik
Mutter. Chronik eines Abschieds
Luchterhand, erschienen Mai 2020
Hardcover mit Schutzumschlag, 160 Seiten
ISBN-13: 978-3-630-87506-4
18,-- Euro
Mehr zum Buch: www.randomhouse.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Melitta Breznik - Der Sommer hat lange auf sich warten lassen
Mit ihrem zweiten Roman begibt sich die Ärztin und Autorin auf eine fast hundert Jahre umspannende Familienreise. Die Ereignisse der österreichischen Revolution von 1934 in Kapfenberg, dem Geburtsort von Melitta Breznik, sind eine prägende Station für den vom kommunistischen Kind zum nationalsozialistischen Wehrmachtsoldaten gewandelten Mann Max, welche auf die Lebensläufe seiner Frau und seiner Tochter bestimmten. (2014)
Melitta Breznik - Nordlicht
Eine junge Ärztin flieht vor beruflicher und persönlicher Überlastung nach Norwegen und verbringt die dunkle Jahreszeit in Erwartung des Nordlichts auf den Lofoten. Das Leben der Wehrmachtskinder in Norwegen wurde erst in jüngster Zeit thematisiert und aufgearbeitet. (2009)
Annie Ernaux – Eine Frau
In ihren (auto-)biographischen Erkundungen nähert sich die französische Schriftstellerin und Zeitzeugin Annie Ernaux ("Die Jahre") in "Eine Frau" dem Leben ihrer Mutter und den Entfremdungen, die ein gesellschaftlicher Statuswechsel in eine Beziehung bringen kann. Ausgezeichnet u.a. mit dem Prix de l´Académie de Berlin 2019.
Simone Morgenthaler - Im Garten meiner Mutter. Chronik eines Abschieds
Aus heiterem Himmel stirbt die Mutter, was die Tochter fassungslos zurück lässt. Im inneren Dialog mit ihr verarbeitet die Journalistin, Moderatorin und Autorin ihre Trauer und Wut und spürt ihrer Liebe nach. (2014)
Ulla Lenze - Der kleine Rest des Todes
Die in Berlin lebende Autorin zieht uns in ihrem brillanten Roman in den Sog einer tiefen Erschütterung, erzählt hautnah von Schmerz, Verzweiflung und Wut nach dem Tod eines geliebten Menschen. (2012)
Cristina Cattaneo - Namen statt Nummern. Auf der Suche nach den Opfern des Mittelmeers.
Europas Außengrenzen sind die tödlichsten der Welt. Nach UN-Angaben starben von Januar 2014 bis Oktober 2019 beim Versuch, über das Meer nach Europa zu gelangen, 18.892 Flüchtlinge im Mittelmeer. Während bei Flugzeugabstürzen und Zugunglücken Spezialist*innen anreisen, um die Toten zu identifizieren und die Angehörigen informieren, treiben die toten Körper der Flüchtlinge nach dem Kentern der hoffnungslos überfüllten Flüchtlingsboote namenlos im Meer. Die Rechtsmedizinerin und Forensik-Professorin Cristina Cattaneo arbeitet gegen das Vergessen. In ihrem Buch beschreibt sie engagiert und einfühlsam gleichermaßen, wie sie den im Mittelmeer Ertrunkenen durch die Recherche nach ihrer Identität ihre Namen zurückgeben will. (2020)
Weitere Infos unter:
www.pakh.de
Arbeitskreis für intergenerationelle Folgen des Holocaust
Eines der zentralen Ziele von PAKH ist die Förderung des Dialogs und der Austausch persönlicher Geschichten. Das kann zu einem besseren gegenseitigen Kennenlernen und Verständnis der individuellen Motive für die Arbeit in PAKH beitragen. Das Mitteilen der eigenen Familiengeschichte ist ein wesentliches Mittel der Bearbeitung traumatischer Erfahrungen, wie des Holocaust, auch in der zweiten und in den nachfolgenden Generationen.
www.literaturhaus-graz.at
Das Literaturhaus Graz veröffentlicht auf seiner Webseite regelmäßig Beiträge unterschiedlicher Autor*innen unter der Überschrift "Die Corona-Tagebücher", eine dieser Autorinnen ist Melitta Breznik.
www.radioeins.de "The End"
Einmal im Monat erscheint auf Radio Eins eine neue Folge des Podcasts "The End", in dem über das Thema "Leben und Tod" gesprochen wird. Unter anderem spricht Gastgeber und Bestatter Eric Wrede mit Sarah Kuttner über deren Buch "Kurt", in dem sie über den Tod eines Kindes schreibt.