Victor Margueritte - La Garçonne - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur





 

Chanukka 5785




AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 09.06.2020


Victor Margueritte - La Garçonne
Christina Mohr

Dieses Buch sorgte bei seinem Erscheinen 1922 in Frankreich für einen handfesten Skandal: Es galt als sittenwidrig und drohte verboten zu werden...




… Worum geht es? Der Autor (ja, ein Mann) beschreibt in aller Deutlichkeit das Leben von Monique Lerbier, einer jungen Frau, die sich dem Vorhaben ihrer Eltern widersetzt. Moniques Enttäuschung ist grenzenlos, als sie erkennt, dass ihre Eltern sie aus rein finanziellen Gründen zur Ehe drängen wollen - mit einem Mann, der sie überdies betrügt, was die Eltern nicht weiter stört, wollen sie sich doch an ihm sanieren. Monique verlässt ihre Familie und verändert ihr Leben komplett.

Nach einigen Jahren hält sie als erfolgreiche Innenausstatterin Einzug in die Pariser Gesellschaft – an der Seite einer berühmten Tänzerin, womit sich der Buchtitel erklärt: Als "Garconne" wurden in den 1920er Jahren junge Frauen bezeichnet, die sich mit Kurzhaarschnitt (Bubikopf), modisch-männlicher Kleidung und selbstbewusstem Auftreten als Vertreterinnen der neuen Zeit zu erkennen gaben. "Garçonne" stand aber auch für lesbische Frauen, die Anfang des letzten Jahrhunderts durchaus etablierte Künstlerinnen sein durften wie beispielsweise Gertrude Stein, die seit 1903 in Paris lebte – aber doch bitte nicht Gegenstand populärer Romane. Und populär wurde "La Garçonne" in Windeseile, trotz oder wohl besser wegen der Skandalträchtigkeit: Übersetzt in zwölf Sprachen avancierte Marguerittes Werk zum weltweiten Bestseller, der – laut eines Zitats von Kurt Tucholsky - "den europäischen Kontinent überschwemmt" hatte und überall "unter den Kopfkissen der Damen verborgen" wurde.

Autor Victor Margueritte war dezidierter Pazifist und gemeinsam mit seinem Bruder Paul ein energischer Verfechter der Gleichberechtigung – selten genug in einer Zeit, die trotz Aufbrüchen in vielen Bereichen (Kunst, Ästhetik, Technik/Wissenschaft, Politik) noch dem traditionellen Familienbild verhaftet war, nach dem die Rollen von Frau und Mann streng verteilt waren. Margueritte, der selbst nicht unumstritten war (er ließ sich angeblich zu wohlwollenden Äußerungen über die Nationalsozialisten hinreißen), war es ein lebenslanges Anliegen, sich für die Sache der Frauen einzusetzen – und Frauen dieselben Rechte wie Männern zuzugestehen, sei es in beruflicher oder sexueller Hinsicht.

Seine "Garçonne" lebt sich in jeder Hinsicht lustvoll aus, nimmt Drogen, genießt erotische Ausschweifungen mit Männern und Frauen und ist letztlich nur vor sich selbst verantwortlich, da sie durch ihren erfolgreichen Betrieb finanziell völlig unabhängig ist. Vom heutigen Standpunkt kann es als Schwäche des Romans gesehen werden, dass Margueritte seine Heldin trotz ihrer Selbstbestimmtheit sich im tiefsten Innern doch nach genuin weiblicher Erfüllung sehnen lässt: Monique wünscht sich ein Kind, und als sie feststellt, unfruchtbar zu sein, gibt sie sich aus Verzweiflung noch intensiver den Drogen hin. Nach einer belastenden Beziehung zu einem besitzergreifenden und eifersüchtigen Schriftsteller findet Monique Frieden und neue Hoffnung in der Verbindung mit einem toleranten Intellektuellen, also einem "modernen" Mann... to be continued in den zwei Folgeromanen mit weiblichen Heldinnen, die sich mit "La Garçonne" zur Trilogie fügen.
Doch trotz seiner Schwächen – die der Entstehungszeit geschuldet sind – ist Victor Marguerittes Roman ein leidenschaftliches Plädoyer für Gleichberechtigung der Frauen im Besonderen und für den Humanismus im Allgemeinen, ein beeindruckend lebendiges Porträt der Zwanziger Jahre obendrein. Als früher Feminist bezeichnet zu werden, hätte Margueritte gewiss gefallen.

AVIVA-Tipp: Wer sich für die 1920er Jahre und die Aufbruchphase der westeuropäischen Frauenemanzipation interessiert, muss "La Garçonne" unbedingt lesen – was dank der Neuauflage beim Verlag ebersbach & simon auch wieder möglich ist.

Über den Autor: Victor Margueritte, 1866 – 1942, setzte sich seit der Jahrhundertwende für die Gleichberechtigung von Frauen ein und schrieb eine Trilogie zum Thema, deren erster Band "La Garçonne" ist.

Victor Margueritte
La Garçonne

Aus dem Französischen von Joseph Chapiro, neu bearbeitet von Sophia Sonntag
ebersbach & simon, erschienen 19.02.2020
ISBN 978-3-86915-210-3
22,00 €
Zum Buch: www.ebersbach-simon.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Aufbruch der Frauen. Die wilden Zwanzigerjahre. Herausgegeben von Brigitte Ebersbach
Vor einhundert Jahren betrat sie die Weltbühne: Die Neue Frau! Sie trug kurze Haare und ebensolche Röcke, rauchte, spielte Tennis und fuhr im eigenen Automobil um die Welt. Oder tippte im Büro langweilige Briefe und sparte eisern jeden Pfennig fürs Wochenendvergnügen. Vor allem aber wollten sie frei sein, diese neuen Frauen, und nicht mehr abhängig von den Männern und ihrem Geld. (2019)

Birgit Haustedt - Die wilden Jahre in Berlin. Eine Klatsch- und Kulturgeschichte der Frauen
Salonnières, Rennfahrerinnen, Künstlerinnen und Provokateurinnen aus Überzeugung prägten die weibliche Topografie Berlins in den 1920er Jahren. Valeska Gert, Vicki Baum, Dora Benjamin und andere Freigeister dekonstruierten gängige Frauenbilder - bis der Nationalsozialismus sie von der Bühne verbannte. (2013)


Literatur

Beitrag vom 09.06.2020

Christina Mohr