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Beitrag vom 14.04.2020
Ali Smith – Herbst
Bärbel Gerdes
Der erste Band ihrer Jahreszeiten-Tetralogie führt die Leserin in ein zutiefst gespaltenes Großbritannien, in dem die BewohnerInnen sich misstrauisch beäugen und Abschied nehmen von dem, wie es vorher war. Indes nimmt Elisabeth leise Abschied von ihrem hundertjährigen Freund, der in einem Dazwischenreich dämmert. Die schottische Autorin Ali Smith brilliert erneut mit einem berührenden und fantasievollen Roman. Großartig übersetzt von Silvia Morawetz.
Einen kräftigen Schub bekam ihre Idee, als Ali Smith 2014 ihren Roman How to Be Both (Deutsch u.d.T.: Beides sein, 2016) gut ein Jahr später als geplant bei ihrem Verleger einreichte. Innerhalb von sechs Wochen gelang es Hamish Hamilton das Buch fertigzustellen. Normalerweise dauert es bis zur Veröffentlichung mindestens neun Monate, oft ein oder eineinhalb Jahre, schreibt Ali Smith im Guardian.
Seit einem Vierteljahrhundert trug Smith die Idee einer Folge von Büchern mit sich herum, die nach den Jahreszeiten betitelt sein sollten. Diese würden so schnell publiziert werden, dass sie nicht nur die gegenwärtige Zeit beschrieben, sondern dass Roman, Gegenwart und Ort sich treffen würden.
Die Autorin hatte sich vorgestellt, über die wechselnden Jahreszeiten zu schreiben, eine Beschwörung ländlicher Szenen, eher traditionelle Geschichten.
Doch sie begann Herbst im Jahre 2016, und am 23. Juni fand in Großbritannien das Referendum über die EU-Mitgliedschaft statt, bei der die Mehrzahl der WählerInnen für einen Austritt stimmten.
Das Resultat war ein zutiefst gespaltenes Land, das einer ungewissen Zukunft entgegensah.
Und so nimmt Ali Smith Charles Dickens Romananfang von A Tale of Two Cities auf, einen Roman, in dem es um die Französische Revolution geht und der "voll des Rausches einer aufgeregten Zeit" ist, wie es in der Beschreibung zur deutschsprachigen Ausgabe 1997 (Insel-Verlag) heißt.
"Es war die beste und die schlimmste Zeit…" beginnt der Roman, anders bei Ali Smith: "Es war die schlechteste, es war die schlechteste aller Zeiten…".
Denn das Referendum änderte alles: Passanten senken die Augen, wenden den Blick ab oder starren sie herausfordernd an… die Kunden [sprechen] mit einer neuartigen Reserviertheit.
Im ganzen Land wurde Trübsal geblasen und gejubelt… Im ganzen Land fanden die Leute, es sei das Falsche. Im ganzen Land fanden die Leute, es sei das Richtige. Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten eigentlich verloren. Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten eigentlich gewonnen.
Mitten in diesem Gebrassel von Neuigkeiten, Fake News, offen ausgelebtem Rassismus und neuem Nationalstolz, von Protesten gegen einen Austritt und dem entsetzlichen Mord an der Politikerin Jo Cox, deren Mörder bei der Ausführung der Tat "Britain first" geschrien haben soll, sitzt die zweiunddreißigjährige Elisabeth am Bett ihres Freundes Daniel. Der über Hundertjährige befindet sich in einem Zwischenland von Leben und Tod, begleitet von intensiven Träumen und der Hand seiner ehemaligen Nachbarin, die er vor vielen Jahren mit Kunst und Literatur bekannt gemacht hatte.
Die damals Neunjährige muss in der Schule ein Porträt ihres Nachbarn schreiben und kommt ihm deshalb näher. Von dieser Zeit an sind sie eng befreundet. Was liest du gerade? fragt er sie jedes Mal, wenn sie sich treffen, und es folgt eine aufregende Begegnung mit Kunst und Freiheit, klugem Witz und viel Einfühlung für das Kind.
Während Elisabeth, die prekär beschäftigte Dozentin für Kunstgeschichte, im Pflegeheim sitzt und Daniel vorliest, denkt sie über ihre gemeinsame Vergangenheit und ihre eigene ungewisse Zukunft nach.
Poetisch und berührend, zart und still stehen diese Szenen der brutalen Erzählung von Ausgrenzung und Nationalismus gegenüber, doch Ali Smith wäre nicht die großartige Autorin, wenn sie diese Geschichte lediglich linear erzählte. Ihre Bücher gleichen bunten und filigranen Mosaiken, die sich beim Lesen allmählich zu einem großen Panorama zusammensetzen. Gerade das macht ihre Romane so aufregend. Da ist die Mutter, die ein spätes Coming Out erlebt, da ist die Spurensuche nach der Pop Art Künstlerin Pauline Boty und da sind hinreißende Naturbeschreibungen des voranschreitenden Herbstes und nicht zuletzt die Absurdität britischer Behörden beim Beantragen eines Reisepasses.
AVIVA-Tipp: Ali Smith hat einen hochaktuellen und einen hochpolitischen Roman über die Zerrissenheit einer Nation geschrieben. Doch gleichzeitig flackert trotz der verstörenden und finsteren Zeiten Hoffnung auf. Silvia Morawetz großartige Übersetzung macht das Buch auch für deutsche Leserinnen zu einem Leseereignis.
Zur Autorin: Ali Smith wurde 1962 in Inverness in Schottland geboren und lebt in Cambridge. Sie hat mehrere Romane und Erzählbände veröffentlicht, ist Mitglied der Royal Society of Literature und wurde 2015 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. Für ihr Debüt »Freie Liebe und andere Geschichten« wurde sie 1995 mit dem Saltire First Book Award ausgezeichnet. Inzwischen hat sie zahlreiche weitere renommierte Preise erhalten, zuletzt 2015 den Baileys Women´s Prize for Fiction. All ihre Bücher widmet Ali Smith ihrer Lebenspartnerin Sarah Wood, mit der sie seit über 20 Jahren zusammenlebt. (Quelle: Random House). Die Fortsetzungen der Tetralogie Winter (2017) und Spring (2019) sind bereits erschienen, Summer folgt im Sommer 2020.
Zur Übersetzerin: Silvia Morawetz, geboren 1954 in Gera, studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik und ist die Übersetzerin von u.a. Janice Galloway, James Kelman, Hilary Mantel, Joyce Carol Oates und Anne Sexton. Sie erhielt Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds, des Landes Baden-Württemberg und des Landes Niedersachsen.
Ali Smith
Herbst
Originaltitel: Autumn (2016)
Aus dem Englischen von Silva Morawetz
Luchterhand Verlag, erschienen am 21. Oktober 2019
272 S., gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-630-87578-1
22,00 €
Mehr zum Buch:
Als Hardcover: www.randomhouse.de
Als Taschenbuch: www.randomhouse.de
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