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Beitrag vom 14.04.2020
Gabriel Berger: Auf der Suche nach Heimat. Eine jüdische Familie im 20. Jahrhundert
Nea Weissberg
Von der Orthodoxie zum kommunistischem Zeitgeist. Bedingt durch Kriegswirren des I. und II. Weltkrieges sowie durch die Nazi-Verfolgung ist die Familie Josef Bergers über Europa und darüber hinaus über die Welt verstreut worden, wofür der Impetus das nackte Überleben gewesen ist. Das ist der persönliche Blickwinkel des Buches, das…
… in Form eines Mosaiks aus Erinnerungen und Erzählungen des Enkels Gabriel Berger sowie seiner Verwandten einen Ausschnitt der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert präsentiert.
Von Abenteuerlust, Streben nach Reichtum und vom Schicksal getrieben, zog Josef Berger mit seiner Frau Cywia und den gemeinsamen Kindern aus dem heimatlichen Polen rastlos von Land zu Land: 1908 nach Palästina, dann nach Belgien, England, Deutschland, Frankreich, schließlich 1949 nach Israel. Deutschland wurde ihm und seiner großen Familie 1923 zur Wahlheimat, die sie aber nach Hitlers Machtantritt fluchtartig verlassen mussten. Dass die freie Wahl der Heimat mit unkalkulierbaren Risiken von Ausgrenzung und politischer Verfolgung verbunden sein kann, haben sein Großvater in Deutschland, sein Vater in Polen und Gabriel Berger in der DDR schmerzlich erleben müssen.
Dabei spielte die religiöse Dimension des Judentums für sie eine untergeordnete Rolle. Am Rande ging es aber um weltliche Spielarten des jüdischen Messianismus, den Marxismus und den Zionismus.
Dem Zionismus hatte sich Josef Berger schon in seiner Jugend verschrieben. Bereits 1908 wanderte er mit seiner Familie aus seiner Heimat Warschau nach Palästina aus. Da ihm aber in Erez Israel kein unternehmerischer Erfolg beschieden war, kehrte er nach Europa zurück. In Antwerpen war er als Diamantenhändler erfolgreich, wodurch er der kinderreichen Familie ein gehobenes Lebensniveau sichern konnte. Doch seine großen unternehmerischen Pläne wurden vom I. Weltkrieg durchkreuzt.
Der Einmarsch deutscher Truppen in Belgien erzwang die Flucht der Familie nach Großbritannien. In London und besonders in Oxford erlebten die heranwachsenden Kinder die schönsten Momente ihres Lebens. Doch trotz seines Erfolgs entschied sich Josef Berger, nach Deutschland zu gehen, in das Land, dessen Kultur und technische Innovation er, wie damals viele Ostjuden, bewunderte. 1923 übersiedelte er mit der Ehefrau und inzwischen elf Kindern nach Berlin. Die schwindelerregende Inflation in Deutschland machte ihn reich. Er konnte es damals nicht ahnen, dass er mit der Übersiedlung nach Deutschland für seine Familie ein erbarmungsloses Schicksal heraufbeschwor.
Josef Berger und elf seiner zwölf Kinder haben den 2. Weltkrieg und die nationalsozialistische Treibjagd auf die europäischen Juden überlebt. Bis zu der durch die Nazis erzwungenen Flucht war Berlin für alle Mitglieder der polnisch-jüdischen Familie eine Traumstadt, die ihnen bis zum Lebensende in positiver Erinnerung geblieben ist. Einige der zahlreichen Geschwister konnten sich durch rechtzeitige Emigration aus Deutschland, Belgien oder Frankreich in ein sicheres Land, Palästina, USA, Großbritannien, Portugal, Südafrika vor der Nazi-Verfolgung retten. Andere erlebten das ungewisse Schicksal von permanent bedrohten, von den Nazis und ihren Kollaborateuren gejagten Flüchtlingen in Frankreich und Belgien.
Als streng gläubiger Jude litt Josef Berger unter der Abwendung seiner Kinder vom jüdischen Glauben und ihrer Hinwendung zum kommunistischen Zeitgeist. Andererseits hatten nicht zuletzt das politische Engagement und der klare Blick für die Gefahren des Faschismus den Mitgliedern der großen Familie das Überleben der Nazi-Herrschaft ermöglicht. Neben den Ereignissen des I. und II. Weltkrieges waren auch die freiwillige Teilnahme auf der republikanischen Seite am Spanischen Bürgerkrieg, sowie nach dem II. Weltkrieg am "sozialistischen Aufbau" in den Ostblockstaaten Ungarn, Polen und DDR sowie die Teilnahme am Aufbau einer jüdischen Heimstätte in Palästina/Israel prägend für die Lebensläufe der Mitglieder der großen Familie.
AVIVA-Tipp: In die Erzählungen seiner Verwandten hat Gabriel Berger seine eigene nicht weniger verwickelte Geschichte eingeflochten, denn auch er hatte, nach dem II. Weltkrieg, in der durch den Eisernen Vorhang geteilten Welt, für sich einen Platz gesucht und gefunden. Ein Stück Zeitgeschichte: Das spannend geschriebene Buch portraitiert eine jüdische Familie, in der schon vor einhundert Jahren der europäische und weltbürgerliche Geist prägend gewesen ist.
Zum Autor: Gabriel Berger entstammt einer polnisch-jüdischen Familie. Er wurde 1944 in Südfrankreich unter deutscher Besatzung im Exil seiner Eltern geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Polen. Eine Welle des Antisemitismus zwang seinen Vater, das Land zu verlassen. Seit 1957 lebte er mit den Eltern in der DDR. Nach dem Physikstudium arbeitete er im kernphysikalischen Bereich. Unter dem Eindruck des 1968 in der Tschechoslowakei eingeleiteten Reformkurses, sowie dessen Zerschlagung durch die Armeen der Ostblock-Staaten nahm er eine oppositionelle Haltung zum "realen Sozialismus" in der DDR ein. Berger konnte 1977 (nach einjähriger, politischer Haftstrafe wegen "Staatsverleumdung") in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen. Dort war er zunächst im kerntechnischen, dann im IT-Bereich tätig. Berger ist Autor mehrerer Bücher, vorwiegend mit jüdischer Thematik sowie über das Leben in der ehemaligen DDR.
Mehr Infos unter: www.gabriel-berger.de
Gabriel Berger
Auf der Suche nach Heimat. Eine jüdische Familie im 20. Jahrhundert
Beggerow Verlag 2020, 289 Seiten.
Herausgegeben mit Unterstützung von Child Survivors Deutschland e.V.
Mehr Infos und Buch-Bestellung unter: www.beggerow-verlag.de
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