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Beitrag vom 22.01.2020
Sigrid Nunez – Der Freund
Bärbel Gerdes
Eine Frau und ein riesiger Hund trauern gemeinsam um ihren besten Freund, der sich für den Suizid entschieden hat. In dem preisgekrönten Roman "Der Freund" der US-amerikanischen Schriftstellerin Sigrid Nunez geht es um Liebe und Freundschaft, Trauer und Rückkehr ins Leben und mit spitzer Feder auch gegen den Literaturbetrieb.
Ganz leicht macht es uns die Autorin zu Beginn nicht: die Ich-Erzählerin begibt sich in einen trauernden Dialog mit ihrem besten Freund, einem Schriftsteller und Literaturdozenten, dreimal verheiratet, dazwischen immer wieder irgendeine Freundin und One-Nights-Stands, gerne mit seinen Studentinnen, immer jüngere Frauen, so dass es angesichts deiner Vorlieben nur eine Frage der Zeit wäre, bis du jemanden hättest, der jünger ist als deine Tochter. Für ihn waren all diese Beziehungen und Begegnungen eine Selbstverständlichkeit, da seiner Meinung nach ein großer Lehrer gleichzeitig ein großer Verführer sein müsse, zuweilen auch ein Herzensbrecher. Die Liebe aus dem Seminarraum zu verbannen, sei vergeblich – womit er vermutlich Sex meinte. Er verehrte den Literaturwissenschaftler George Steiner, der in einem seiner Werke schrieb, dass Erotik, verhohlen oder unverhohlen, vorgestellt oder ausgelebt, dem Unterricht inhärent sei. Und er fügt hinzu:Diese grundlegende Tatsache wurde durch die Fixierung auf sexuelle Belästigung trivialisiert.
Auch die namenlose Ich-Erzählerin fühlt sich angezogen von dem Schriftsteller, der ihr Dozent ist. Sie hungerte nach Wissen und begriff, dass es in deiner Macht stand, es mir zu vermitteln..
Schnell sind die beiden unzertrennlich. Es bleibt bei einem One-Night-Stand den er später als Fehler bezeichnet, was die Erzählerin beschämt.
Nein, es ist nicht ganz leicht, diesem ersten Teil des Buches zu folgen, indem als Muster beschrieben wird, dass junge Frauen willens sind mit dir zu vögeln, jedoch nicht aus Verlangen. Was sie antreibe sei Narzissmus, der Nervenkitzel, einen älteren Mann in einer Machtposition auf die Knie zu zwingen.
Und indem der Schriftsteller der Ich-Erzählerin sehr viel erklärt.
Ihr Gefühl zu ihm ist ambivalent. Viele verstehen die Beziehung zwischen den beiden nicht. Seine Ehefrauen können sich kaum vorstellen, dass sie tatsächlich „nur“ miteinander befreundet sind, und auch ihrer rückblickenden Erzählung unterliegt ein Moll-Ton der verpassten Liebesbeziehung.
Der Tod ihres Freundes trifft sie tief. Sie weint und weint, überlegt, ob sie ihn, der so oft über seinen Selbstmord sprach, hätte abhalten können, ob es eine spontane oder geplante Tat gewesen sei.
Als die dritte Ehefrau des Verstorbenen sie bittet, seinen Hund Apollo bei sich aufzunehmen, eine riesige, 80 kg schwere Dänische Dogge, ist sie zunächst nicht begeistert. Er würde kaum in ihre kleine Wohnung passen, außerdem sei die Haltung von Hunden verboten.
Dennoch zieht er bei ihr ein und wird ganz allmählich zu einem Trauerbegleiter, dem sein Herrchen nicht weniger fehlt als ihr der Freund. Schon eine Weile hat er nicht mehr gefressen. Er ignoriert sie, scheut den Blickkontakt. Er ist beunruhigend still und macht sich schnell – trotz Verbots – das Bett zu seinem Schlafplatz. Mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt Nunez die vorsichtige Annäherung der beiden, die aneinander Trost finden. Die Ruhe und emotionale Verletzlichkeit der Dogge, deren Rasse auch als sanftmütiger Riese beschrieben wird, geben der Ich-Erzählerin ein Gefühl des Vertrauens.
Der Hund wird immer stärker zu ihrem Lebensmittelpunkt, um den sie sich sorgt, um dessen Bleiben sie kämpft und dem sie aus seiner Trauer helfen möchte – und damit auch aus ihrer.
Rührend, aber nie sentimental, sind die Szenen, in denen sie Apollo Musik vorspielt oder ihm etwas vorliest, um ihm aus seiner Depression zu helfen.
Sie nimmt ihre Arbeit wieder auf – auch sie ist inzwischen Literaturdozentin – und schreibt.
Sie reflektiert die gemeinsame Freundschaft, die sich zumeist in literarischen Zirkeln abspielte, in einer literarischen Welt, die mit Hass vermint ist, ein von Scharfschützen umzingeltes Schlachtfeld, auf dem ständig Eifersüchteleien und Rivalitäten ausgetragen werden. Sie listet die Klagen ihres Freundes auf, der der Ansicht sei, niemand in den Verlagen interessiere sich dafür, wie etwas geschrieben sei, dass die Literatur sterbe und dass das Ansehen von Schriftstellern tief gesunken sei.
Sie zeigt, wie verwoben Lesen und Leben, Schreiben und Sein sind.
Sigrid Nunez selbst wurde mit den Seltsamkeiten des Literaturbetriebes konfrontiert. Der Erfolg des hier vorliegenden, mit dem National Book Award ausgezeichneten Romans sei völlig überraschend, stellte die Presse fest – obgleich dies bereits ihr siebter Roman ist. Auch seine Vorgänger, beginnend mit A Feather on the Breath of God (1995), wurden bereits mit Preisen geehrt. Sie schrieb einen Virginia-Woolf-Roman und ein Memoir über ihre Freundin Susan Sontag. Sie schreibt unter anderem für solch renommierte Magazine wie The New York Times, The New York Times Book Review, The Wall Street Journal und The Paris Review.
AVIVA-Tipp: Bei aller Schwere der Trauer ist es Sigrid Nunez gelungen, einen zuweilen leichten, immer aber klugen Roman von Verlust und Erinnerung zu schreiben.
Zur Autorin: Sigrid Nunez wurde 1951 in New York City geboren. Die Tochter einer deutschen Mutter und eines chinesisch-panamaischen Vaters studierte am Barnard College und an der Columbia University. Sie unterrichtete u.a. am Amherst College, an der Columbia und an der Princeton Universität. 1995 erschien ihr erster Roman A Feather on the Breath of God (Deutsch u.d.T. Wie eine Feder auf dem Atem Gottes), der Finalist für den PEN/Hemingway Award for First Fiction war. Es folgten u.a. der Virginia-Woolf-Roman Mitz: The Marmoset of Bloomsbury (Deutsch u.d.T. Das Krallenäffchen) und 2011 das Memoir Sempre Susan. Der 2018 erschienene Roman The Friend erhielt den National Book Award, war Finalist des Simpson/Joyce Carol Oates Preises und ein New York Times Bestseller. In Irland stand er auf der Longlist des International Dublin Literary Awards, in Frankreich auf der Longlist des renommierten Prix Femina. Sigrid Nunez lebt in New York City.
Mehr zur Autorin: sigridnunez.com
Zur Übersetzerin: Anette Grube, geboren 1954, studierte in München Kommunikationswissenschaften, Politik und Amerikanistik. Sie arbeitete von 1979 - 1990 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaften der Universität München. Ab 1988 war sie auch als Übersetzerin aus dem Englischen und Spanischen, sowie als Redakteurin tätig und ist seit 1990 freiberufliche Übersetzerin. Unter anderen übersetzte sie Chimamanda Ngozi Adichie, Sara Paretsky, Doris Lessing, Arundhati Roy, Vikram Seth, Kate Atkinson, Richard Yates, T. C. Boyle, Madeleine Thien, Petina Gappah, Monica Ali und Patricia Cornwell. Anette Grube lebt in Berlin.
Sigrid Nunez
Der Freund
Originaltitel: The Friend (2018)
Aus dem Amerikanischen von Anette Grube
Aufbau Verlag, erschienen am 20. Januar 2020
235 S., gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-351-03486-3
20,00 €
Mehr zum Buch sowie Lesungstermine unter: www.aufbau-verlag.de