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Beitrag vom 07.01.2020
Fran Ross - OREO
Pieke Biermann
IDENTITÄT, SCHMIDENTITÄT. Zwei, drei Hinweise, wie ich Oreo und ich zusammenkamen. Die traut sich was! war mein erster Gedanke, als ich ihn endlich lesen konnte: OREO, den Roman einer Fran Ross. Verdammt nochmal, wie konnte der mir beim Recherchieren für LADY WRITES THE BLUES, mein Radiostück von 1987 über die Geschichte der Literatur von Afroamerikanerinnen seit 1775, entgehen?
Bis zum Sommer 2018, als eine Eloge im Guardian erschien. Ein "Kleinod der schwarzen Literatur" sei endlich wieder da, schrieb Marlon James, der schwule jamaikanische Schriftsteller, der 2015 den Man Booker-Preis bekommen hatte. Äh – wieder? Ja, das Meisterwerk war praktisch zerquetscht worden zwischen Toni Morrisons THE BLUEST EYE (1970) und Alex Haleys ROOTS (1976). Vielleicht war einfach die Zeit noch nicht reif für einen Schelmenroman, der "regelrecht vibriert vor brillanter Komik und Wildheit", dessen Titelheldin eine schwarze Jüdin oder jüdische Schwarze ist – as you like it. Wie ihre Autorin. Für eine hochintelligente Satire auf Identitätshuberei jeder Couleur, einen Hybrid aus Sprache/n, Stil/en, Rhythmen, der in keine Schublade passt.
"Mix is never fix."
Das Buch musste ich haben. "Mestizaje es grandeza", ist einer meiner Lieblingssätze. Reinheit, Identität, Mono-, gar Leitkultur bezogen auf Menschen, kombiniert mit "Rasse" (Ethnie ist da meistens auch nur ein Euphemismus) und Sexualitäten sind mir suspekt, seit ich denken kann. Sowas endet zwangsläufig beim Definieren von "Minder-/Mehrwertigkeit" und im Extremfall bei Völkermord. Was sonst sollte man lernen aus der Horrorepoche, in der sich die eigene Elterngeneration mehr oder weniger freudig an einer angeblichen Überlegenheit ihrer "arischen Rasse" geweidet hat?
"Glauben Se jaa nich, wen Se vor sich haben!"
Und dann hatte ich es. Das Buch, das einfach heißt wie ein Negativ der "Prinzenrolle": der Keks dunkel, die Creme innen hell. Als "Oreo" machen sich Afroamerikaner allerlei Geschlechts gegenseitig verächtlich. Als "Oreo" gilt, wer tief drinnen lieber weiß wäre (noch schlimmer als ein "Onkel Tom"). Mit diesem Namen eine schwarz-jüdische Heldin auf die Reise zu schicken – die traut sich was! Und hört nicht auf damit. Gleich im ersten Kapitel, "Mischpoche", geht´s um Oreos Background mitsamt dessen unverblümt vorgetragenen Rassismen, in einer irrwitzigen Polyphonie aus Englisch, Jiddisch und schwarzen Idiomen, Tabellen über Hautfarben inklusive. Ihr jüdischer Vater Sam heißt ausgerechnet Schwartz mit Nachnamen. Shwartze ist Jiddisch für das, was andere Weiße damals negroes nannten.
Sams Mutter Frieda erliegt angesichts seiner Heirat "einem rassistischen/mein-Sohn-ein-Gammler-Herzinfarkt", Helens schwarzer Vater James erstarrt ob der Aussicht auf einen jüdischen Schwiegersohn spontan zum halben Hakenkreuz, der Versandhandel, mit dem er Juden über den Tisch zu ziehen pflegt, liegt brach, was Mutter Louise durch Lottospielen kompensiert, bevor sie sich an eins ihrer legendären Menüs macht und Gott und die Welt versieht mit Kommentaren in atemberaubendem Südstaaten-Black English. Der nächsten Sprache, nach Jiddisch und Englisch, die Oreo lernt, als die Ehe zerkracht, Sam als dilettierender Schauspieler in New York bleibt und Helen, das mathematisch-musikalische Genie, zurück zu den Eltern nach Philadelphia zieht, noch schnell einen Sohn gebiert und fortan zumeist auf Tournee ist. Ihre Briefe nach Hause sind an Chuzpe kaum zu toppen. Aus einem entwickelt Oreo ihr Lebensmotto "Nemo me impune lacessit" – in Latein! – sowie eine Kampfsportart namens WITZ. Auch eine Sprache, nützlich wie das Tscha-ki-ki-Wah ihres kleinen Bruders. So gerüstet wird sie sich auf den Weg von Philadelphia nach New York machen – oder von Troizen nach Athen, wie der antike Theseus: auf der Suche nach dem Vater. Also sich selbst.
Die traut sich wirklich was! Während Oreo das "Geheimnis ihrer Geburt" löst, kapert Fran Ross kurzerhand nicht nur die Klassiker der Alten Welt, ihre Figuren und Szenerien – immer parallel zu Theseus´ Abenteuern – bersten vor Anspielungen quer durch die weiße männliche und für Nicht-Weiße und Nicht-Männer auch gern toxische Kulturgeschichte. Das alles ist so saukomisch wie sauklug.
Ach, wer das übersetzen könnt´! war mein zweiter Gedanke. Nach zig weiteren denke ich gerade darüber nach, warum damals niemand OREO als große Schwester von Pecola Breedlove aus Toni Morrisons THE BLUEST EYE annehmen wollte …
Zur Autorin: Fran Ross (1935-1985) wuchs in Philadelphia auf. Sie machte ihren Schulabschluss mit 15 Jahren und studierte Kommunikationswissenschaften, Journalistik und Theater an der Temple University. 1960 zog sie nach New York, dort arbeitete sie als Korrekturleserin und Journalistin. Oreo erschien 1970, auf der Höhe des Black Power Movement der Sechziger- und Siebzigerjahre, der Text erwies sich jedoch als seiner Zeit voraus und kann erst heute seine Wirkmächtigkeit entfalten. (Quelle: Verlagsinformation)
Zur Übersetzerin: Pieke Biermann, geboren 1950, studierte Deutsche Literatur und Sprache bei Hans Mayer sowie Anglistik und Politische Wissenschaft in Hannover und Padua. Sie lebt in Berlin und ist seit 1976 freie Schriftstellerin und Übersetzerin, u.a. von Stefano Benni, Andrea Bajani, Dorothy Parker, Anya Ulinich, Tom Rachman und Ben Fountain. 2014 erschien von Pieke Biermann "Wir sind Frauen wie andere auch! Prostituierte und ihre Kämpfe". Ihre Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem drei Mal mit dem Deutschen Krimipreis. (Quelle: Verlagsinformation und AVIVA-Berlin)
Fran Ross
OREO
dtv Literatur, erschienen 20. September 2019
Deutsche Erstausgabe, 288 Seiten, ISBN 978-3-423-28197-3
Erstmals auf Deutsch in der Ãœbersetzung von Pieke Biermann, mit einem Nachwort von Max Czollek.
EUR 22,00 € [DE], EUR 22,70 € [A]
Mehr zum Buch unter: www.dtv.de
© 2019.08. Pieke Biermann über Fran Ross OREO
Diesen Text schrieb Pieke Biermann für die Geistesblüten, Literaturveranstalter mit kuratierter Buchhandlung, eigenem Magazin und Veranstaltungsort am Berliner Walter-Benjamin-Platz.
AVIVA-Berlin dankt für die Genehmigung zum Abdruck!