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Beitrag vom 07.10.2019
Roskva Koritzinsky – Ich habe die Welt noch nicht gesehen
Ahima Beerlage
In ihrer Heimat Norwegen ist die 1989 geborene Osloerin bereits ein Shootingstar der Literaturszene. Mit sechs Erzählungen erscheint sie zum ersten Mal auch in deutscher Sprache. Und diese sechs Erzählungen haben es in sich. Begleitet von lyrisch verdichteter Sprache...
... folgen die Leserinnen den Figuren durch eine verstörende Welt.
Dieser schmale Band wirkt auf den ersten Blick wie ein Besuch in einer unterkühlten Galerie, an deren Wänden brillante, aber unberührbare Kunstwerke hängen. Schon nach wenigen Worten ist die Leserin gefangen von dieser treffsicheren Sprache mit ihren ungewöhnlichen Bildern, doch die Handlung bleibt düster, fast aussichtslos.
In der ersten Geschichte lernen sich eine Frau und ein Mann in einer Kirche kennen. Es ist wahr, dass Kirchen dazu gebaut sind, den Menschen Gott als offenen Raum in seinem Körper erfahren zu lassen. Doch diese beiden Menschen erfahren nichts Göttliches. Die Frau versucht über Sex und körperliche Nähe den Mann zu manipulieren. Die Angst, echte Nähe nicht zu erreichen, blockiert gerade aber die gemeinsame Erfahrung. In der nächsten Geschichte verschwinden auf mysteriöse Weise sechs Welpen aus einem Haus. Ihr Schicksal bleibt für die trauernde Hündin und ihre Besitzerin zunächst ungeklärt, selbst als die Tochter der Hausbesitzerin und eine der Welpen wieder auftauchen.
In der titelgebenden Geschichte Ich habe die Welt noch nicht gesehen trauert eine Frau ratlos um ihren Partner. Wer war dieser Mensch für sie und was machte ihre Liebe aus? Menschen, die einander ähnlich sind, brauchen ihn vielleicht nicht aus diese Weise, diesen Opferplatz zwischen den Körpern, die Lichtung, auf die man hinaustreten kann. Eine junge Balletttänzerin verliert das Zutrauen in ihren Körper, in ihre Tanzkunst und an sich selbst, als sie sich mit den Augen einer Zufallsbekanntschaft sieht. Ich glaubte nicht an Gott, aber dennoch fühlte ich, dass eine Wand durch die Welt verlief, und wenn ich die Augen schloss und meine Wange daran lehnte, hörte ich dumpfe Laute von der anderen Seite.. Eine Frau fürchtet sich so sehr vor dem Bösen, dem Grenzenlosen in ihr, dass sie kaum wagt zu leben, bis sie schließlich das ultimativ Gute und Selbstlose tut. In der letzten und umfangreichsten Geschichte folgt eine Tochter dem unheimlichen und voller Abgründe gelebten Leben ihres Vaters.
Es ist fast unmöglich, die Welt, in der sich die Figuren bewegen, betreten zu wollen. Wonnegraus ist das, was die herausfordernde Lektüre hervorruft. Einerseits faszinieren die gewählten Metaphern, andererseits möchte die Lesende flüchten vor dieser oft abgrundtiefen Hoffnungslosigkeit der Figuren. Eine in jeder Hinsicht außergewöhnliche Lektüre, die vom Karl Rauch Verlag in eine besonders liebevolle und handwerklich wunderschöne Buchform gebracht wurde.
AVIVA-Tipp: Diese kleine, aber feine Sammlung aus sechs Erzählungen will nicht auf oberflächliche Weise gefallen. Die beschriebenen Welten sind von anrührender und erschreckender Düsternis. Doch zugleich ist die Sprache, aus dem Norwegischen übersetzt von Andreas Donat, so verdichtet, sind die Metaphern so außergewöhnlich gewählt, dass es unmöglich erscheint das Buch aus der Hand zu legen, bis auch die letzte Zeile gelesen ist. Der Eindruck drängt sich auf, dass die Autorin die Sprache, aber nicht die Welt liebt. Und das fasziniert auf eigentümliche Weise. Spätestens nach der Lektüre dieses Buches versteht die Leserin, warum Roskva Koritzinsky der Shootingstar der neuen skandinavischen Literatur ist.
Zur Autorin: Roskva Koritzinsky geboren 1989 in Oslo, wurde bereits für ihre beiden vorangegangenen Erzählungen und Kurzgeschichten begeistert gefeiert und mit Preisen ausgezeichnet. Ich habe die Welt noch nicht gesehen (Jeg har ennå ikke sett verden) stand auf der Shortlist des renommierten Literaturpreises des Nordischen Rats. (Verlagsinformation)
Mehr Informationen (auf Norwegisch) unter: www.aschehoug.no
Roskva Koritzinsky
Ich habe die Welt noch nicht gesehen
Originaltitel: Jeg har ennå ikke sett verden
Aus dem Norwegischen von Andreas Donat
Karl Rauch Verlag, 1. Auflage (ET: 5. August 2019)
Gebundene Ausgabe, Fadenheftung mit Lesebändchen, 96 Seiten
ISBN: 978-3792002605
Preis: 18,00 Euro
Mehr zum Buch sowie Lesetermine unter: karl-rauch-verlag.de
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