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Beitrag vom 23.09.2019
Mona Høvring – Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte
Bärbel Gerdes
In ihrem aktuellen Roman nimmt uns die norwegische Autorin Mona Høvring ("Was helfen könnte") mit in das Hotel einer verschneiten Bergwelt: die surreale und märchenhafte Erzählung zweier Schwestern, die sich nach einer Entfremdung wieder annähern möchten.
Es wirkt, als koche Mona Høvring ihre Romane zusammen, bis sie auf das Essentielle reduziert sind. Aus geschriebenen 200 bis 300 Seiten lässt sie eine konzentrierte Lektüre entstehen, in der kaum ein Wort zu viel, eine Szene überflüssig ist. Hier macht sich das Sprachtalent der Lyrikerin, die bereits zahlreiche Gedichtbände veröffentlichte, bemerkbar.
Schon ihr 2004 erschienener Roman Was helfen könnte wurde hochgelobt. Die intensive Visualität und Sinnlichkeit erzeugen darin eine große Sogwirkung.
Im vorliegenden Band geht es um Ella, die die Geschichte erzählt, und um ihre um ein Jahr ältere Schwester Martha. Symbiotisch wachsen die beiden Mädchen heran, schlafen in einem Bett und wohnen zusammen in einem Flügel des Hauses, während die Eltern den anderen bewohnen.
Von einem Tag auf den anderen jedoch zerstört Martha dieses Beisammensein. Sie habe ihre Arbeit gekündigt, teilt sie mit, sie werde nach Dänemark ziehen, um zu heiraten. Und tatsächlich packt sie ihre Sachen und ist verschwunden.
Ella wird der Boden unter den Füßen weggezogen, doch war ihr klar, dass ich diesen Verlust wieder in den Griff bekommen musste. Und ich schaffte es zum Glück, ihn in den Griff zu bekommen.
Genauso plötzlich, wie sie verschwand, taucht Martha eines Tages wieder auf, schroff, sarkastisch, fast aggressiv. Was ihr geschah, erzählt sie nicht.
Eine Ärztin schlägt einen Aufenthalt in den Bergen vor, in einem wirklich guten Hotel. Sie habe schon mit der Mutter gesprochen, die bestätigt habe, Ella würde Martha ganz sicher begleiten. Und Ella stimmt zu – weil sie immer zugestimmt hat, schon immer verantwortlich für ihre Schwester war und außerdem stark eingenommen ist von der Ärztin, die geheimnisvoll hypnotische Sätze sagt wie Entweder es geht gut, oder es geht vorbei.
Das geplante Alpenhotel wird schließlich zu einem Hotel in den norwegischen Bergen, da Martha Flugangst hat.
Ellas mäandernde, hierhin und dorthin schweifende Gedanken lassen allmählich den Verdacht aufkommen, dass auch mit ihr etwas nicht stimmt und dass sie den Verlust ihrer Schwester weit weniger in den Griff bekommen hat, als sie behauptet. Ich täuschte Mutter, ich täuschte Vater, ich täuschte sogar mich selbst, auf diese Weise überlebte ich die Zeit […] und die angespannte, rasende Zärtlichkeit, die ich für meine Schwester empfand.
Leichte Verfremdungen, Beobachtungen, die ganz leicht ver-rückt erscheinen, lassen Ellas Verfassung erkennen.
Das Glashotel erinnert sie an einen orientalischen Vogelkäfig, Greisenbäume stehen am Straßenrand.
Und plötzlich ist Martha wieder verschwunden.
Ihre Erzähler seien oft zerbrechlich, verletzlich, mutlos und verwirrt, sagt Mona Høvring , doch hätten sie auch großes Entwicklungspotential.
In ihrem ausführlichen Nachwort interpretiert Nicole Seifert den Roman mit all seinen Anspielungen auf altbekannte Märchenmotive. Meistens seien es Initiationen, wenn Märchen von Geschwistern handelten, schreibt sie, Urkonflikte werden behandelt, und oftmals werden zwei unterschiedliche Persönlichkeiten – die bescheiden fleißige Schwester und die hochmütige faule – einander gegenübergestellt.
Ella will sich lösen aus ihrer Verantwortung: Als Kind gehörte ich Martha, Mutter und Vater. In genau dieser Reihenfolge gehörte ich ihnen. Die angestrebte Befreiung gelingt ihr auch durch die knabenhafte Dani, mit der sie eine aufregende Liebesnacht verbringt. Ich möchte über Sexualität als eine positive Kraft schreiben und mithilfe von sinnlichen, fast schon harmonischen Tableaus positiv besetzte Möglichkeiten aufzeigen, hat die Autorin einmal gesagt. Schon in Was helfen könnte wird Sexualität als bereichernd und schön dargestellt, als eine Quelle auch von Selbsterkenntnis.
Ob es Ella tatsächlich gelingt, unabhängig und frei zu werden, bleibt unklar. Weiter versuchen wird sie es gewiss.
AVIVA-Tipp: Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte ist ein poetischer, doch gleichzeitig leicht surrealer Roman über die Befreiung einer jungen Frau.
Zur Autorin: Mona Høvring wurde 1962 in Norwegen geboren. Seit 1998 hat sie zahlreiche Gedichtbände veröffentlicht. 2004 debütierte sie als Prosaschriftstellerin mit dem Roman Noe som hjelper. Es folgten drei weitere Romane, darunter 2012 Venterommet i Atlanteren und 2018 Fordi Venus passerte en alpe ol den dagen jeg blei født. 2012 wurde sie für ihr Gesamtwerk mit dem Språklig samlings litteraturpris ausgezeichnet. Für den vorliegenden Roman erhielt sie im März 2019 den Kritikerpreis für den besten norwegischen Roman 1918.
Zur Übersetzerin: Ebba D. Drolshagen, 1948 in Büdingen geboren, studierte Anglistik und Germanistik mit Schwerpunkt Linguistik in Frankfurt/Main und an der University of Chicago. Seit 1985 arbeitet sie als Übersetzerin aus dem Englischen, Norwegischen und Dänischen sowie als Publizistin, Rundfunkjournalistin und Reisejournalistin. Unter anderem übersetzte sie Vera Brittain, Gertrude Bell und Judy Chicago. Darüber hinaus veröffentlichte sie zahlreiche Sachbücher, u.a. 2017 Zwei rechts, zwei links. Geschichten vom Stricken und 2015 Der melancholische Garten: Ein Spaziergang über den Frankfurter Hauptfriedhof. Ebba D. Drolshagen lebt in Frankfurt/Main.
Mehr Infos: ebba-drolshagen.de
Nicole Seifert ist ausgebildete Verlagsbuchhändlerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Autorin. Ihre Dissertation schrieb sie über die Tagebücher von Virginia Woolf, Sylvia Plath und Katherine Mansfield. Sie unterhält den Blog Nacht und Tag (www.nachtundtag.de) mit zahlreichen Rezensionen zeitgenössischer Literatur von Autorinnen. Gegenwärtig ist sie unter den Finalist*innen für den Buchblog Award 2019. Nicole Seifert lebt in Hamburg.
Mona Høvring
Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte
Originaltitel: Fordi Venus passerte en alpefiol den dagen jeg blei født
Aus dem Norwegischen von Ebba D. Drolshagen
Mit einem Nachwort von Nicole Seifert
Editionfünf, erschienen im August 2019
Hardcover mit Kupferprägung, Bezug Naturpapier
136 Seiten
ISBN 978-3-9820692-2-7
19,00 €
Auch als eBook erhältlich
eBook € 13,99
Mehr Infos, Lesungstermine und bestellen unter: www.editionfuenf.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Mona Høvring - Was helfen könnte
Als Lauras Mutter ins Wasser geht, ist sie in der ersten Klasse. Neun Jahre alt ist sie, als ihre Mutter ihr nachts im Traum das Schwimmen beibringt. In ihrem stillen Buch erzählt die norwegische Lyrikerin und Autorin Mona Høvring von Einsamkeit und Trauer, Erwachsenwerden und der erwachenden Sexualität eines Mädchens.(2019)