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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 19.09.2019


Cornelia Koppetsch – Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im Globalen Zeitalter
Ahima Beerlage

Die Professorin für Soziologie schlägt einen weiten Erklärungsbogen zwischen transnationalen Communities und ihren Sehnsüchten nach Selbstoptimierung, und maximaler Diversität und den konservativen Wirtschafts- und Kultureliten und ihren restaurativen-nationalistischen Bestrebungen. In den Rissen zwischen diesen Extremen wächst Antisemitismus, Rassismus und Rechtspopulismus.




Hier die toleranten, aufgeklärten, weltoffenen WeltenbürgerInnen – dort die dumpfen, angstgesteuerten, minderbemittelten rechten HetzerInnen. So stellt sich für viele vermeintlich aufgeklärten Menschen zurzeit die politische und gesellschaftliche Lage dar. Als Beginn dieser Spaltung der Welt werden zwei Ereignisse ausgemacht: der 11. September 2001 mit dem Terroranschlag auf das World Trade Center sowie die Grenzöffnung für Flüchtlinge in Europa ab 2015. Cornelia Koppetsch lässt diese holzschnittartigen Erklärungen aber nicht unwidersprochen stehen. Für sie hat der Prozess gesellschaftlicher Spaltung und der Aufstieg des Rechtspopulismus wesentlich früher und schleichender eingesetzt. Mit dem Ende des Kalten Krieges lösten sich nationale Gewissheiten und ideologische Lager zugunsten eines sich ausbreitenden globalen Kapitalismus` auf. Befördert durch die Digitalisierung und die Aufteilung von Produktionsprozessen über nationale Grenzen hinaus, bestimmen jetzt transnationale Communities und Konzerne statt nationaler Organisationen und Betriebe das wirtschaftliche und soziokulturelle Geschehen. Was auf den ersten Blick wie ein Weg zum "Weltfrieden" aussieht, birgt aber auch große Gefahren. "Die Herausbildung transnationaler Communities stiftet zwar einerseits neue Zugehörigkeiten und Solidaritäten, erhöht andererseits aber auch das Risiko neu auflodernder religiöser oder ethnischer Konflikte, die eine globale Ausweitung erfahren und immer weniger im nationalstaatlichen Rahmen gezähmt werden können."

Die globalen Prozesse werden vor allem von einer neuen akademisch-kosmopolitischen Mittelschicht gesteuert, die innerhalb weniger Metropolen leben und arbeiten. Die Produktideen entstehen in den Metropolen, ihre Umsetzung in fertige Produkte wird in aufstrebende Schwellenländer mit Billiglohn verlegt, um diese Produkte dann wieder zu importieren. Auf der Strecke bleiben Industriearbeitsplätze in den bisherigen "reichen Nationen" sowie die bisherigen konservativen Wirtschafts- und Kultureliten, die mit den beschleunigten globalen Prozessen nicht Schritt halten können, außerdem die bisherigen "Volksparteien" und ihre nationalen Einflussbereichen und Steuerungselemente. Die Konzentration auf wenige riesige Metropolen drängt zudem die Menschen ins Aus, die außerhalb dieser Metropolen leben.

Das hat Folgen. "In den deklassierten Schichten steigt das Risiko regressiver Persönlichkeitsentwicklungen, da blockierte Aufstiege oder Abstiege von den Betroffenen oftmals als Machtverlust erfahren werden und in unrealistisches Verlangen nach Restauration der alten Ordnung auslösen können." Schnell wird nach Schuldigen an dieser Misere gesucht. Doch statt den sich immer mehr beschleunigenden globalen Kapitalismus ins Visier zu nehmen, wird "das Fremde" als Verursacher wahrgenommen. "Die Sozialfigur des Migranten vereinigt in sich, wie keine andere Figur grenzüberschreitende Mobilität, kulturelle Fremdheit, identitäre Hybridität und transnationale Verflechtung." Die wahren Ursachen lassen sich damit bestens verschleiern. "Digitale Kommunikationssysteme und globale Verflechtungen lassen wirtschaftliche, institutionelle und technologische Neuerungen schneller diffundieren und bringen in immer kürzeren Abständen sozialen Wandel. Die beschleunigten Diffusionsraten bewirken überdies, dass sich nationale Gesellschaften aus unterschiedlichen Weltreligionen einander angleichen."

Alte Gewissheiten verschwinden also und diejenigen, denen immer mehr die Erklärungsmuster entgleiten, die ihre Privilegien schwinden sehen und die real gesellschaftlich absteigen, wollen diesen Prozess entschleunigen, die Zeit zurückdrehen und sich national abschotten, während sich die neue globale Mittelschicht immer mehr aus den bisherigen Koordinaten von Gesellschaft zurückzieht und sich immer wieder neu erfindet. "Wichtiger als das Sein wird die Fähigkeit zur Modellierung und zur gezielten Hervorbringung spezifischer Identitäten."

Damit legt Cornelia Koppetsch den Erklärungsrahmen fest, in dem sie den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien, neuer Gemeinschaften, postindustrielle Umformungen von Gesellschaft und die Emotionalisierung von Politik erklärt. Sie macht alle Seiten für den Rechtsruck in der Gesellschaft verantwortlich: mangelnde Bemühungen der neuen globalen Mittel- und Oberschicht, diesen radikalen Umbau von Gesellschaften transparent zu machen und die diffusen Bemühungen nationaler Regierungen, an ihrer Macht festzuhalten, wie die nationalistische Hetze derjenigen, die die von der globalen Entwicklung beeinträchtigten Menschen für ihre rassistischen, antisemitischen und frauenfeindlichen Ziele vereinnahmen wollen. Auf die rasanten Veränderungen reagieren die Einzelnen mit Rückzug und Angst, Aggression und Schuldzuweisungen, die eine Verständigung immer weniger wahrscheinlich macht. Den Preis für diese Entwicklung zahlen die, die als "anders" identifiziert werden.

Dass die Spaltung der Gesellschaft sowie die zunehmende Digitalisierung und damit Anonymisierung von Kommunikation zu einer Verrohung und zum Verlust von Zivilisation führt, erscheint der Autorin fast zwangsläufig. Es entsteht damit eine "Gesellschaft des Zorns", die auf eine gefährliche Radikalisierung und Entsolidarisierung zusteuert.

AVIVA-Tipp: Cornelia Koppetsch liefert im wahrsten Sinne des Wortes eine radikale Erklärung für die Spaltung der Gesellschaft und den daraus resultierenden Zorn. Dabei zerrt sie die vermeintlich "guten" globalen Communities aus ihrer Komfortzone und macht sie ebenso verantwortlich für den wachsenden Rechtspopulismus wie die AfD. Das Buch ist alles andere als leicht zu lesen – weder emotional noch von der Fülle der Informationen her. Aber es ist eine wichtige Lektüre, die den Blick über nationale Grenzen und bisherige Gesellschaftsmuster hinaus erweitert. Als Professorin unter anderem auch für Geschlechterverhältnisse wäre ein besonderer Blick auf die Auswirkungen für Frauen weltweit wünschenswert gewesen. Dennoch bleibt dieses Buch unverzichtbar für die, die den nationalistischen Ruck überwiegend in den Industriestaaten verstehen wollen. Ein herausforderndes, beängstigendes, aber auch notwendiges und erhellendes Buch.

Zur Autorin: Cornelia Koppetsch geb. 1967, ist seit 2009 Professorin für Soziologie an der TU Darmstadt. Sie studierte Soziologie, Psychologie und Philosophie und promovierte in Soziologie bei Martin Kohli und Wolf Lepenies am Graduiertenkolleg »Gesellschaftsvergleich« der Freien Universität Berlin. Weitere wissenschaftliche Stationen waren die University of Chicago, die Universität Jena und die HU Berlin. Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der sozialen Ungleichheiten, der Geschlechterverhältnisse in Paarbeziehungen, der Biografieforschung sowie des Aufstiegs der neuen Rechtsparteien.
Neben zahlreichen Artikeln in Fachzeitschriften und Kollaborationen mit anderen WissenschaftlerInnen veröffentlichte sie: Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte. Frankfurt a. M.: Campus (2013), "Das Ethos der Kreativen. Eine Studie zum Wandel von Arbeit und Identität am Beispiel der Werbeberufe", Herbert von Halem Verlag (2006). (Quelle: Verlagsinformation)

Auszeichnungen für "Die Gesellschaft des Zorns"
Sachbücher des Monats (Welt, WDR 5, NZZ, OE1) – Platz 1 im Juli 2019 (Platz 10 im Juni)
Sachbuch-Bestenliste (DLF Kultur, ZDF, ZEIT) – Platz 1 für Juli/August 2019

Cornelia Koppetsch
Die Gesellschaft des Zorns
Rechtspopulismus im Globalen Zeitalter

transcript Verlag (13. Mai 2019)
Taschenbuch, 288 Seiten
ISBN: 978-3837648386
Preis: 19,99 Euro
Mehr Infos zum Buch: www.transcript-verlag.de

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Literatur

Beitrag vom 19.09.2019

Ahima Beerlage