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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 22.05.2019


Nina Verheyen - Die Erfindung der Leistung
Helga Egetenmeier

Dass Leistung im feministischen Sinne positiv gedacht werden kann, kommt bei den Assoziationen zu diesem Begriff nicht als erster Gedanke auf. Doch die Historikerin Nina Verheyen holt zu seiner gesellschaftlichen Einbettung...




...weit aus und verweist dabei auf dessen Bedeutung für die Frauenbewegung. Aktuell wird ihr Ansatz durch die heute als "feministische Chance" diskutierte "Arbeit 4.0", deren kollektiver Anteil der Leistung nicht in einem individualistischen Leistungsverständnis untergehen darf.

Durch ihre detailreiche Ausgestaltung der historischen Entwicklungen, verbunden mit einem leicht lesbaren Schreibstil, wirkt Nina Verheyens Buch fast wie ein historischer Roman. Die diskursiven Veränderungen ihrer Hauptfigur "Leistung" beschreibt sie mit differenzierter Kritik, die Übergänge zwischen den Kapiteln gestaltet sie wie Cliffhanger für einen Krimi. Ebenfalls angenehm fällt ihre Entscheidung auf, "die männliche und weibliche Form in beliebigem Wechsel" zu verwenden, "wenn das Geschlecht von Personen(gruppen) unbekannt ist."

"Leistung" wird heute überwiegend verstanden als Karriere und Konkurrenz, Intelligenz und Anstrengung, Fitness und Stress. Nina Verheyen verdeutlicht mit dem Tochter-Vater-Konflikt aus dem preisgekrönten Spielfilm "Toni Erdmann" die von ihr betrachtete Ausgangssituation: Die gut ausgebildete Ines Conradi macht Karriere als Unternehmensberaterin und orientiert sich vor allem an ihrem Job. Für ihren Vater, der sich der 68er-Generation zuordnet, erscheint sie einsam und unglücklich, er kritisiert sie wegen ihrer Leistungsorientierung.

Leistung als Beitrag für die Gemeinschaft

Um ihren Diskurs zu dem Leistungsbegriff in seine weite Bedeutung einzuführen, verweist die Historikerin auf dessen über Jahrhunderte erfolgte inhaltliche Verschiebung. Aus der germanischen Sprachfamilie stammend, bedeutete "laista", Fuß, Spur, ursprünglich, "einer (Fuß-)Spur folgen". Der Sinn übertrug sich im Neuhochdeutschen ins Abstrakte "auf das Befolgen eines Gebots oder die Erfüllung einer Schuld." So verwies das Wort damals nicht auf die individuellen Möglichkeiten eines Menschen, sondern auf seine Pflichten gegenüber anderen. Dieser Bezug auf die Gemeinschaft hat sich bis heute durch "jemanden Gesellschaft leisten" erhalten.

Als Beispiel für den Wandel des Leistungsbegriffs zu seiner Interpretation als individuelle Steigerungsmöglichkeit nennt Verheyen den IQ-Test, den Sport und die Wissenschaft. Hierfür stehen die hauptsächlich westlich und männlich geprägten Leistungsschauen bei den olympischen Spielen und der Vergabe der Nobelpreise. Sie führt aus, wie diese die kollektiven Leistungen hinter ihren Preisvergaben ignorieren und damit Leistungskriterien in den Vordergrund stellen, die den individuellen Kampf glorifizieren und damit auch oft die Arbeit von Frauen unsichtbar mach(t)en.

Feminismus und die Individualisierung von Leistung(en)

Neben aller Kritik verweist die Autorin aber auch auf die Vorzüge, die sich im Leistungsparadigma kristallisieren. Gesellschaftlich, wie auch feministisch bedeutend ist dabei der Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit. Dafür zieht sie die soziologische Diskussion um die ehemals vorherrschenden Ständegesellschaften heran, die gegenüber der heute dominierenden Leistungsgesellschaft als undemokratisch und totalitär gelten. Die Frage danach, wer entscheidet, wenn es um begrenzte Güter oder begehrte Studienplätze geht, kann in demokratischen Gesellschaften mit der Wahl ihrer politischen Vertreter*innen beantwortet werden.

Auch die Frage nach den Kriterien, nach denen eine Auswahl (wie Uni- oder Arbeitsplatz) getroffen wird, orientiert sich an Leistungskriterien. Hier führt Verheyen den feministischen Kampf zur Gleichstellung der Geschlechter an, für den das individuelle Leistungsprinzip ein wichtiger Aspekt war und ist. Dass es die gläsernen Decken, die bestimmte Geschlechter und soziale Herkunft benachteiligen, dennoch weiterhin gibt, denkt sie in ihrer differenzierten Auseinandersetzung mit und bleibt deshalb der Auswahl durch Leistungskriterien gegenüber auch kritisch.

Leistung als kollektive Handlung

Die Idee der Leistungsgesellschaft gab es nach Ansicht der Historikerin schon in der Antike, greift heute bei demokratischen Gesellschaften als Ordnungskriterium, existierte in Wirklichkeit jedoch noch nie. "Wer unter Leistungsgesellschaft ein soziales Gebilde versteht, das den Status jedes Einzelnen zuverlässig an dessen Leistung bindet, wird auf der ganzen Welt keine finden." Dagegen sieht sie die gegenseitige Erwartungshaltung als zwischenmenschliche Konstante. Wenn dieser der Leistungsbegriff übergestreift wird, dient er auch als Machtdemonstration im Geschlechterverhältnis

Die Filmfigur Ines Conradi ist durch ihre ständige Erreichbarkeit und flexible, kaum abgrenzbare Arbeitszeit, in der "Arbeit 4.0" angekommen. Doch in den Augen ihres Vaters ist sie eine bedauernswerte Frau, die gegen Windmühlen kämpft, um den Erwartungen anderer zu folgen. Sie beharrt jedoch auf ihrer ausgezeichneten Ausbildung und ihre überdurchschnittliche berufliche Leistung. Doch die hartnäckige Kritik ihres Vaters, der, mit Verheyen gesprochen, auch nur seine Erwartung ihr gegenüber ausdrückt, bringt sie ins Grübeln. Dies gelingt auch der Autorin mit ihrem Buch über das Leistungsparadigma, das im Sinne von "gemeinschaftlichem Handeln" Teil eines progressiven Gesellschaftsmodells sein könnte.

AVIVA-Tipp: Dass der Begriff der Leistung in den aktuellen Diskussionen um eine gerechtere und ökologischere Gesellschaft, wie auch zu feministischen Forderungen bei dem digitalen Wandel in der Arbeitswelt, sinnvoll eingesetzt werden kann, zeigt Nina Verheyen in ihrem angenehm lesbaren Sachbuch. Rigoros setzt sich die Historikerin dafür ein, Leistung als kollektive Handlung zu sehen und liefert für diesen zukunftsweisenden gesellschaftlichen Ansatz den Leser*innen mit ihrem Buch die besten Argumente.

Zur Autorin: Nina Verheyen studierte an der FU und der HU in Berlin und wurde für ihre Magisterarbeit mit dem "Nachwuchspreis für Familienforschung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend" ausgezeichnet. Heute ist sie Historikerin an der Universität Köln. Zuvor war sie u.a. am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin tätig, sowie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Neben Artikeln für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Merkur hat sie u.a. das Buch "Diskussionslust. Eine Kulturgeschichte des ´besseren Arguments´ in Westdeutschland" (2010) veröffentlicht. Sie lebt in Köln und Berlin.

Nina Verheyen
Die Erfindung der Leistung

Hanser Berlin, Februar 2018
Hardcover, gebunden, mit Schutzumschlag, 256 Seiten
ISBN-13: 978-3-446 25687-3
23,00 Euro
Mehr zum Buch unter: www.hanser-literaturverlage.de

Zur weiteren Information:

www.bpb.de
"Die Erfindung der Leistung" von Nina Verheyen wurde als Band 10259 in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen.

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Frauen in der Arbeitswelt 4.0
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Hrsg. Von Dagmar Preißing
DE GRUYTER OLDENBOURG, Erscheinungsdatum: Februar 2019
Zum Inhalt: Dagmar Preißing und ihre Mitautorinnen greifen in diesem Buch auf, inwieweit sich diese neuen Ausprägungen der Arbeit 4.0 als Chancen oder Risiken auf die Erwerbstätigkeit von Frauen auswirken. Die Erwerbstätigkeit von Frauen zu erhöhen, ist ein erklärtes Ziel der EU-Kommission im Rahmen der Europa 2020 Strategie. Die Gründe hierfür sind offensichtlich: Erstens sollte eine Volkswirtschaft es sich nicht leisten, auf die Hälfte aller zur Verfügung stehenden qualifizierten Arbeitskräfte – die Frauen – zu verzichten. Zweitens erfordert der demografische Wandel mit dem damit verbundenen Mangel an Fach- und Führungskräften die Erwerbsbeteiligung aller potenziellen Arbeitskräfte, auch die der Frauen. Drittens zeigen die Entwicklungen der Sozialpolitik, dass die künftige Altersarmut vor allem Frauen trifft. Eine steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen könnte diese fatalen Entwicklungen mildern.
Ziel dieses Buches ist es daher aufzuzeigen, ob und wie eine gleichberechtigte, verbesserte und erhöhte Arbeitsmarktintegration von Frauen in Deutschland, auch und gerade vor dem Hintergrund einer sich verändernden Arbeitswelt, erfolgen könnte. (Quelle: Verlagsinfo)
Mehr zum Buch unter: www.degruyter.com

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Literatur

Beitrag vom 22.05.2019

Helga Egetenmeier