AVIVA-Berlin >
Literatur
AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 -
Beitrag vom 27.04.2019
Ines Geipel - Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass
Bärbel Gerdes
Als ihr Bruder stirbt, begibt sich Ines Geipel auf die Spuren ihrer Herkunftsfamilie und ihrer Herkunftsgesellschaft. Die in der DDR aufgewachsene Autorin und Professorin für Verskunst trifft auf einen Staat, dessen Lügen und Schweigegebote, Gewalt- und Angstherrschaft sich...
... bis in die Gegenwart auswirken.
Mit der gleich doppelten Vergessensspolitik - die nach dem Nationalsozialismus und die nach der Auflösung der DDR - erklärt Geipel den Rechtsruck, die Fremdenfeindlichkeit und den Rassismus im Osten Deutschlands.
Mein Bruder hat mich geholt, als er wusste, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. Als er sicher war, dass wir nichts mehr klären können. Fünf Jahre haben sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht gesehen. Was ungewöhnlich ist, standen sie sich doch so nahe, denn die brutalen zerstörerischen Übergriffe des Vaters – ein Euphemismus angesichts einer Kindheit im Terror - ließen sie zueinander halten und füreinander da sein.
Ines Geipel verwebt ihre Familiengeschichte mit der der DDR. Der Vater, der von der Staatssicherheit zu einem Terroragenten ausgebildet wurde und die erlernten Methoden in der eigenen Familie anwandte. Dessen Akte 800 Seiten umfasst, auf denen sein Einsatz lobende Erwähnung findet. Der Großvater, Gauführerschule..., Rassenpolitischer Kursus, Mitglied der NSDAP seit 1933. Der sich zum Osteinsatz meldet und 1941 nach Riga kommt, das die Deutschen zwei Monate vorher besetzt haben. Pogrome, mobile Kommandos, Lynchmorde, tausende Tote. Das jüdische Riga war leer gemordet. schreibt Geipel und findet einen Brief ihres Großvaters, der sich aus Ghettobeständen zur Auffüllung seiner Wohnung Bettwäsche, Möbel und Tischwäsche erbittet.
Dessen Frau Elisabeth zur NS-Frauenschaft gehört und deren innerer Motor Geld, Karriere und Absicherung heißt.
Geipel schreibt das Psychogramm einer Gesellschaft, die mehr als 50 Jahre in Diktaturen lebte, ohne diese aufzuarbeiten. Sie thematisiert die Sagenbildung um Buchenwald, in der die kommunistischen Gefangenen zu Helden stilisiert werden und sie deckt das Schweigen und Verschweigen auf. Kinder und Jugendliche stehen in weißen Blusen beim Appell, beim Gelöbnis, bei den toten Reden. Durch die politische Umschreibung wurde der Antisemitismus in den Westen ausgelagert, auch wenn bereits 1947 jüdische Friedhöfe geschändet oder Wände mit Hakenkreuzen beschmiert wurden. Es durfte nicht sein, was nicht sein sollte - Gedächtnisbeton des DDR-Antifaschismus nennt es die Autorin.
Eine nicht öffentliche Studie belegt alleine im Jahr 1966 zweiunddreißig faschistische Provokationen im Bezirk Dresden. Bereits zu diesem Zeitpunkt fallen Orte wie Pirna, Freital und Görlitz durch Nazi-Losungen und Nazi-Symbole auf. Selbstverständlich werden die Ergebnisse dieser Studie nie in die Gesellschaft getragen.
Nach einer Erhebung der Jüdischen Gemeinde gab es 1951 noch 1244 Mitglieder – vor dem Holocaust lebten etwa 85.000 Juden und Jüdinnen im Osten Deutschlands. Doch nach und nach verringerte sich auch diese Zahl: 1975 auf 813, 1976 auf 710 jüdische Menschen.
Auch den Mythos von der freien und selbstbewussten DDR-Frau zerschmettert Geipel. Zwar schrieb die DDR 1949 die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau fest, Resultat aber war, dass Frauen sich einer extremen Mehrfachbelastung von Beruf, Haushalt und Kindern ausgesetzt sahen.
Die Konsequenzen dieser Umdeutungen, Umschreibungen, Lügen und Verdrängungen zeigen sich in blinden Flecken für die Vergangenheit und einer Leugnung von Schuld und Verantwortung.
AVIVA-Tipp Ines Geipel hat sich auf eine schmerzhafte Spurensuche begeben. Sie konfrontiert sich mit ihrer Familiengeschichte und sie konfrontiert die ehemalige DDR mit ihren Unterlassungen und ihrem Schweigeterror, der den Weg ebnete zu Rassismus, Antisemitismus und den rechtspolitischen Entwicklungen im heutigen Ostdeutschland.
Zur Autorin: Ines Geipel geboren 1960, ist Schriftstellerin, Professorin für Verssprache in Berlin und ehemalige Weltklassesprinterin. Sie gilt als Expertin für eine ostdeutsche Archäologie weiblichen Schreibens und hat vielfach dazu veröffentlicht. Sie ist Mitherausgeberin der Verschwiegenen Bibliothek der Büchergilde Gutenberg. Ihre Veröffentlichungen (Auswahl): No Limit. Wie viel Doping verträgt die Gesellschaft, Stuttgart 2008. Für heute reicht´s. Amok in Erfurt, Berlin 2004. Dann fiel auf einmal der Himmel um: Inge Müller. Die Biografie, 2004. Zensiert, verschwiegen, vergessen. Autorinnen in Ostdeutschland 1945-1989, 2009. Tochter des Diktators (Roman), 2017.
Ines Geipel erhielt 2011 das Bundesverdienstkreuz am Bande für ihr Engagement für die in der DDR unterdrückte Literatur und für ihre Aufarbeitung des DDR-Zwangsdoping-Systems. 2017 erhielt die das Goldene Band der Sportpresse. Die Autorin und Publizistin lebt in Berlin.
Ines Geipel
Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass
Verlag Klett-Cotta, erschienen im März 2019
277 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-608-96372-4
20,00 €
Mehr zum Buch: www.klett-cotta.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Ines Geipel - Zensiert, verschwiegen, vergessen. Autorinnen in Ostdeutschland 1945 – 1989
Wieso verschwiegen und vergessen? Bekannte Autorinnen aus Ostdeutschland gibt es doch wie Sand am Meer. Christa Wolf, Monika Maron und Irmtraut Morgner sind nur einige der berühmtesten. Wo liegt also das Problem? Wer diese Frage stellt, weiß wenig über die Realität künstlerischer (Un)freiheit in der DDR. Ines Geipel, die 1960 geborene Autorin von "Zensiert, verschwiegen, vergessen", hat selbst unter dem DDR-Regime gelitten. Die Olympiasprinterin musste aus politischen Gründen ihre Sportkarriere beenden. Ihr in Jena begonnenes Germanistikstudium setzte sie in Darmstadt fort. Von ihrem Trainer ohne ihr Wissen gedopt, beteiligte sie sich nach der Wende an einer Sammelklage wegen Körperverletzung. (2009)
Anna Kaminsky - Frauen in der DDR
Die Auffassung, dass die DDR in punkto Gleichberechtigung von Frauen ein wahres Fortschrittswunderland gewesen sei, ist nach wie vor weit verbreitet. Doch wie gestaltete sich die Lebensrealität der Frauen tatsächlich? Die Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, die Übersetzerin und Autorin Anna Kaminsky, versucht in ihrem Buch "Frauen in der DDR" einen umfassenden Einblick in das wahre Leben der weiblichen DDR-Bevölkerung zu geben – und dem gängigen Bild der DDR als zumindest im Bezug auf Gleichberechtigung der Geschlechter fortschrittlichem Land zu widersprechen. (2017)
Nadine Kegele - Lieben muss man unfrisiert. Protokolle nach Tonband
1977 erschien "Guten Morgen, du Schöne. Protokolle nach Tonband", Maxie Wanders Sammlung authentischer Alltagsgeschichten von Frauen aus der DDR. Vierzig Jahre später erneuert die Wiener Autorin Nadine Kegele das Experiment. (2017)
Christa Wolf - Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten – Briefe 1952-2011
Zum fünfjährigen Todestag der Schriftstellerin am 1. Dezember 2011 hat die Herausgeberin Sabine Wolf, Leiterin des Literaturarchivs in der Berliner Akademie der Künste, eine Autobiographie in Briefen gezaubert. (2017)
Brigitte Reimann und Christa Wolf - Sei gegrüßt und lebe. 1963 - 1973. Eine Freundschaft in Briefen und Tagebüchern
Brigitte Reimann und Christa Wolf lernen sich erst 1963 persönlich richtig kennen, auf einer Delegationsreise nach Moskau. Anlässlich des 85. Geburtstags von Christa Wolf ist der Band in erweiterter Neuausgabe erschienen. (2016)
Isabel Fargo Cole - Die grüne Grenze
Die Amerikanerin Isabel Fargo Cole, Mitinitiatorin der Initiative Writers Against Mass Surveillance, debütiert mit einem Roman am Rande der DDR. Zwischen Dorfgemeinschaft und Grenzzäunen entfaltet sie die Geschichte einer Gesellschaft im Sperrgebiet. (2017)
Regina Scheer – Machandel
Ein knappes Jahrhundert (ost)deutscher Geschichte erschließt der Debütroman der Kulturwissenschaftlerin Regina Scheer mit seiner Familiensaga um ein mecklenburgisches Dorf namens Machandel und der Lebensgeschichte der Doktorandin Clara Langner, die dem alten Märchen vom Machandelbaum nachspürt. (2015)
Cornelia Schleime - Das Paradies kann warten. Storys
Cornelia Schleime, 1953 in Ostberlin geboren, ist nicht nur eine der bedeutendsten Malerinnen Deutschlands, sie ist auch eine höchst lesenswerte Autorin: Nach dem Roman "Weit fort" und dem biographisch-dokumentarischen Werk "In der Liebe und der Kunst weiß ich genau, was ich nicht will" legt Schleime mit "Das Paradies kann warten" ihren ersten Erzählungsband vor. (2014)
Marianne Birthler - Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben. Erinnerungen
Die Autobiographie der Politikerin und Aktivistin der Freiheitsrevolution von 1989 ist Pflichtlektüre im 25. Jahr des Mauerfalls. Mit großer Offenheit schildert sie aus persönlicher Sicht, was ein Leben in der DDR ausgemacht hat, die historischen Ereignisse, die zur Wiedervereinigung geführt haben, ihr Politikerinnendasein im vereinigten Deutschland und ihre Arbeit als Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen. (2014)