AVIVA-Berlin >
Literatur
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 22.12.2018
Maeve Brennan - Sämtliche Erzählungen
Bärbel Gerdes
Mit einer wunderschönen zweibändigen Leinenausgabe ehrt der Steidl-Verlag die 1917 in Dublin geborene irisch-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin Maeve Brennan. Die hierzulande viel zu unbekannte Autorin mit ihren genialen Geschichten verdient es, (wieder-)entdeckt zu werden.
Mary Ramsay ist die Damentoilettendame im geruhsamen Royal Hotel in Dublin. Mit Maeve Brennan hat sie gemeinsam, dass sie "mit ihrer scharfen Zunge … einem die Haut abziehen" könnte. Seit mehr als dreißig Jahren arbeitet Mary dort und fand immer noch "gnadenloses Vergnügen daran, die Frauen zu mustern, wenn sie in ihren weiblichsten, verzweifeltsten und komischsten Notlagen an ihr vorübermussten.". Ein Kleinkrieg beginnt jedoch, als die neue Direktionsassistentin, Marys Erzfeindin Miss Williams, sich zu einem wagemutigen Schritt aufrafft. Miss Williams soll das Hotel noch vor der Sommersaison auf Vordermann bringen. Während Mary ihren großen, geschwollenen Torso über den Fußboden schleppte, die Beine ganz in schwarze Wollstrümpfe verpackt und mit zu großen Herrenpantoffeln an den Füßen, hatte Miss Williams "einen sparsamen kleinen Körper, einen straffen, unerschrockenen Bauch und eine sehr schmale Nase, die wie ein Sensenblatt geformt war."
Die Kontrahentinnen sind aufgestellt – der Kampf kann beginnen.
Die im Januar 1917 in Dublin geborene Maeve Brennan ist eine Meisterin psychologischer Kriegsführung. Vor der Leserin breitet sie genüsslich das Schlachtfeld aus, mal ist es eine Kleinfamilie, mal eine unleidliche Gästin in einem Hotel. Doch immer berührt sie zutiefst in ihren Erzählungen.
Brennan wuchs in dem Dubliner Vorort Ranelagh auf. Ihre Eltern kämpften während der politischen Unruhen in den frühen 1920ger Jahren in Irland auf Seiten der Republikaner. Sie nahmen 1916 am Osteraufstand teil, der damit endete, dass die Mutter Üna einige Tage ins Gefängnis musste, während der Vater Robert zum Tode verurteilt wurde. Das Todesurteil wurde in eine Zuchthausstrafe umgewandelt, doch auch nachdem er entlassen wurde, kam er wegen seiner politischen Aktivitäten immer wieder in Haft, was Maeve Brennans Kindheit stark prägte. Nach der Unterzeichnung des Vertrags mit England im Jahre 1922, der Irland zum Irischen Freistaat machte, fahndeten die Freistaatler nach Brennans Vater. Von den Durchsuchungen, bei denen bewaffnete Männer in das Wohnhaus eindrangen und alles auf den Kopf stellten, erzählt die Autorin in Der Tag unserer Revanche. Sie war damals ein fünfjähriges Mädchen. Kein Gegenstand blieb unberührt. Die Männer hinterließen ein vollkommenes Chaos. Einer der Männer durchsuchte den Schornstein. Schwarzgesprenkelt und mit kaputten Ärmeln kam er daraus hervor. ´Gott sei Dank hatte ich vergessen, den Kamin ausfegen zu lassen!´, rief die Mutter aus. "Und begleitet von unserem entzückten, ungläubigen Geschnatter, lachte sie, als wollte ihr das Herz brechen."
1934, als Maeve siebzehn war, zog die Familie nach Washington D.C., weil Robert Brennan in der irischen Vertretung tätig wurde. Maeve studierte Englisch und blieb in den Vereinigten Staaten, als ihre Eltern 1944 nach Irland zurückkehrten. Sie wurde Werbetexterin bei dem renommierten Harper´s Bazaar und begann, kleine Stücke für den New Yorker zu schreiben. 1949 wurde ihr dort ein Job angeboten. Maeve Brennan schrieb Essays, Kritiken und Beobachtungen aus New York, die sie als Long-Winded Lady veröffentlichte. 1950 begann The New Yorker ihre Kurzgeschichten zu publizieren, deren erste The Holy Terror hieß, zu Deutsch Der Plagegeist, eben jene Geschichte Mary Ramsays, der die Damentoilette im Hotel ihre Bühne und ihr Reich waren.
Die Biographin Angela Bourke ist sich sicher, dass Maeve Brennan niemals Schriftstellerin geworden wäre, wenn sie in Irland geblieben oder dahin zurückgekehrt wäre. Amerika boomte, erzählt sie der Zeitschrift Irish-America, während Irland sehr arm war.
Brennans Geschichten spielen in beiden Staaten. Hans-Christian Oeser, Herausgeber und Übersetzer der vorliegenden Ausgabe, hat die Bände in Dubliner Geschichten mit dem grünen Leineneinband, und New Yorker Geschichten, der gelbe Einband, unterteilt. Innerhalb der Bände hat Oeser Gruppen gebildet, so dass nun die Geschichten, wie beispielsweise die über die Familie Bagot, zusammenstehen, auch wenn sie ursprünglich mit mehreren Jahren Abstand geschrieben worden waren. Vor unseren Augen wachsen also die beiden Töchter Lily, das Alter Ego der jungen Maeve, und ihre Schwester Margaret heran und vor unseren Augen ex- oder besser implodiert auch die Ehe von Delia und Martin. In dem Geschichtszyklus Der Teppich mit den großen pinkfarbenen Rosen vergeht der zwölfte Hochzeitstag so unbemerkt-bemerkt wie das große Schweigen des Paares. Mr Bagot schwebt eher wie ein Geist durch diese Erzählungen und ist doch immer präsent, auch wenn er erst spät abends nach Hause kommt, sich in seine Kammer verkriecht und am nächsten Tag schon wieder zur Arbeit ist.
Brennans große Kunst besteht darin, eine psychologisch feingliedrige Welt aus vollkommen alltäglichen Begebenheiten entstehen zu lassen. Der aufgerollte Teppich, der zum Reinigen im Garten liegt, regt Lily zu Fantasien über explodierende Häuser und Reichtümer am Grund des Hauses an. Der gemeinsame Mittagsschlaf führt zu tiefer Geborgenheit. "Wie sie dort alle miteinander im Bett lagen, mochten sie ebenso gut unsichtbar sein oder verzaubert oder, was sie ja einstweilen auch waren, völlig vergessen."
In den Vereinigten Staaten waren die Stücke von Maeve Brennan in den 1950ger und 1960ger Jahren sehr bekannt, obwohl erst 1969 ein Erzählband ihrer Werke in Buchform erschien. In Irland indes wurde sie kaum gelesen, obwohl ein großer Teil ihrer Geschichten dort spielt. Brennan selbst galt als witzig, elegant und schön. Sie war exzentrisch, lebte in Hotels und liebte es, das New Yorker Leben zu beobachten.
1954 heiratete sie den Chefredakteur des New Yorker St. Clair McKelway. Es war seine vierte Ehe und er war Alkoholiker und galt als Womanizer. Für einige Jahre lebte sie mit ihm am Hudson River, Schauplatz der Geschichten Tanz der Dienstmädchen. Fünf Jahre hielt diese Ehe. Die folgenden waren die produktivsten ihres Schriftstellerinnenlebens. Einher damit gingen jedoch auch psychische Veränderungen, die schließlich in schizophrenen Schüben mündeten. Sie begann zu trinken, übernachtete auf der Damentoilette des New Yorker, wurde zeitweise obdachlos und wurde mehrmals in psychiatrische Kliniken eingeliefert. In den 80ger Jahren war sie vergessen. Sie schrieb nicht mehr und lebte nach Jahren des Herumirrens in einem Pflegeheim, in dem sie 1993 sechsundsiebzigjährig starb.
Wiederentdeckt wurde Brennan durch die Veröffentlichung ihrer Erzählungen 2000 in den USA und 2001 in England. Seit 2003 hat sich der Steidl-Verlag ihres Werkes angenommen.
Hans-Christian Oeser hat die Erzählungen in ein poetisches und wunderbares Deutsch übertragen. Die Wörter glitzern und funkeln.
Unvollständig aber wäre jede Rezension, ohne dass die Hunde Erwähnung fänden, Bluebell zum Beispiel, die grauschnauzige und betagte Labradorhündin, der Brennan sieben Geschichten widmete, genauso wie Bennie, der kleine weiße und so dankbare Rauhaarterrier, der Mrs Bagot auf Schritt und Tritt folgt. Brennans feine und exakte Beobachtungen sind so real, dass wir meinen, mit Bluebell den sieben Kindern aus dem Haus des Riesen entgegenzustürmen.
AVIVA-Tipp Eine wirkliche Entdeckung und ein allergrößter Lesegenuss sind diese Erzählungen! Auf mehr als 1000 Seiten entfaltet sich die unglaubliche Kunst Maeve Brennans, ihre Bissigkeit wie ihre Zärtlichkeit, vor allem aber ihr tiefes menschliches Verständnis.
Zur Autorin: Maeve Brennan wurde am 6. Januar 1917 in Dublin geboren. 1934 zog sie mit ihren Eltern nach Washington. Nachdem sie zunächst als Werbetexterin bei Haper´s Bazaar arbeitete, wechselte sie 1949 in die Redaktion des The New Yorker. Ab 1969 erschienen ihre Erzählungen auch in Buchform. Maeve Brennans Bücher Die Besucherin, Mr. und Mrs. Derdon, Der Teppich mit den großen pinkfarbenen Rosen, Der Morgen nach dem großen Feuer und Tanz der Dienstmädchen wurden begeistert aufgenommen. Maeve Brennan starb am 1. November 1993 in einem Pflegeheim in New York City.
Maeve Brennans Artikel im New Yorker: www.newyorker.com
Zum Übersetzer: Hans-Christian Oeser geboren 1950 in Wiesbaden, studierte Germanistik, Politologie, Philosophie und Pädagogik an der Philipps-Universität Marburg und an der Freien Universität Berlin. Er war DAAD-Lektor für deutsche Sprache, Literatur und Landeskunde am University College Dublin, Dozent am National Institute for Higher Education Dublin, Senior Tutor, danach Lehrbeauftragter am University College Dublin. 1984-2000 unterrichtete er Sprach-, Literatur- und Übersetzungsunterricht am Goethe-Institut Dublin. Für seine Übersetzungen von William Faulkner, Anne Enright, Samuel Pepys und vielen mehr, erhielt er zahlreiche Preise, darunter der Europäischen Übersetzerpreis, den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis für das gesamte übersetzerische Werk sowie eine Ehrenmitgliedschaft der Irish Translators´ and Interpreters´ Association auf Lebenszeit. Darüberhinaus hat er zahlreiche Bücher über Irland geschrieben und ist auch als Herausgeber tätig. hanschristianoeser.com
Maeve Brennan
Sämtliche Erzählungen (Dubliner Geschichten, New Yorker Geschichten)
Herausgegeben und aus dem Englischen übersetzt von Hans-Christian Oeser
Steidl-Verlag, 1. Auflage 11/2018
2 Bände im Schuber, 1168 Seiten
ISBN 978-3-95829-533-9
Euro 45,00
Mehr zu den Bänden: steidl.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Lucia Berlin - Was ich sonst noch verpasst habe. Stories
(Alp)traumhafte Geschichten, die an vielen verschiedenen Orten in den westlichen Staaten der USA spielen. Sie alle handeln von Frauen in - vordergründig - trostlosen, desolaten Situationen, besser gesagt von einer Frau – der Autorin selbst, mit fiktionalem Abstand. (2016)
Edith Pearlman - Honeydew
Haben Sie je Menschen in Ihrer Nachbarschaft, in der U-Bahn und im Wartezimmer Ihrer Ärztin angesehen und sich gefragt, welche kleinen und großen Einsamkeiten und Obsessionen, welches gebrochene und geheilte Herz hinter diesem Gesicht stecken? Edith Pearlman webt in jeder der zwanzig Kurzgeschichten von "Honeydew" an einem kleinen Stück dieses mosaikartigen Teppichs. (2015)
Alice Munro - Liebes Leben. 14 Erzählungen
Mit leisen Tönen und ganz unsentimental führt uns die "Meisterin der Kurzgeschichten" in die Abgründe der menschlichen Existenz. Nun erschien ihr neuester Erzählband. Es sei ihr letzter, sagt Munro. (2014)
Paula Fox - Die Zigarette und andere Stories
Momentaufnahmen, teils autobiographisch, teils exemplarisch und aus dem Leben erdacht, bildet die 1923 in New York geborene Autorin in ihren Kurzgeschichten durch scharf gezeichnete Figuren ab. (2014)
Elizabeth Taylor - Blick auf den Hafen
In poetischer Nüchternheit beschreibt die englische Autorin, die zu Lebzeiten wie posthum kaum Bekanntheit erlangte, die kleinen Dramen eines verschlafenen Hafenstädtchens so spannend, dass es Mühe macht, das Buch aus der Hand zu legen. (2012)
Grace Paley - Ungeheure Veränderungen in letzter Minute
Die große alte Dame der amerikanischen Shortstory erzählt in wundersamer Komik alltägliche New Yorker Geschichten von überforderten Müttern, arroganten Kerlen, "zweijährigen quäkenden Quenglern und Wochenendschwulen." (2014)
Carson McCullers - Gesammelte Erzählungen
Die scharfen Beobachtungen des amerikanischen Alltags sowie ein prägnanter und emotionaler Schreibstil sind das Markenzeichen der bereits 1967 verstorbenen Autorin. (2006)