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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 07.10.2018


Andy Warhol. Drag & Draw. The Unknown Fifties
Tina Schreck

In ihrer Publikation widmet sich die Kunsthistorikerin, Amerikanistin, Kuratorin und Autorin Nina Schleif dem Frühwerk Andy Warhols, bevor er zum Begründer der Pop Art avancierte. Im Fokus ihrer Untersuchung steht dessen Spiel mit den Geschlechterrollen, das vor allem auch die Faszination des Künstlers zur Feminität zum Ausdruck bringt. Eine Femmage an die Weiblichkeit in all ihren Facetten.




Über die frühen Werke des amerikanischen Künstlers, Filmemachers und Verlegers Andy Warhol war bislang wenig bekannt. Dass sie einen enormen Einfluss auf sein gesamtes Œuvre haben, macht Nina Schleif in ihrer Monografie "Drag & Draw. The Unknown Fifties" sichtbar. Im Fokus der Publikation stehen zwei Serien von Zeichnungen der 1950er-Jahre, in denen Warhol erstmals das kontroverse und für ihn sehr persönliche Thema des Geschlechterspiels verhandelte und die sich eklatant von seinen Auftragsarbeiten unterschieden. Die erste Serie ist ein brillantes Ensemble von ausdrucksstarken Frauen, das nach dem Vorbild bekannter Fotografien weiblicher Bühnenstars sowie Männern in Frauenkleidung entstand. Die zweite Serie besteht aus Porträts von Männern in extremer, weiblicher Aufmachung. Ausgiebig beleuchtet Nina Schleif Warhols Arbeiten und deren Ursprünge in Fotografien und wirft zugleich Licht auf New Yorks verborgene Schwulen- und Drag-Szene während der repressiven 1950er-Jahre.

Ladies´ Alphabet

In 26 Zeichnungen hat der Künstler starke, charismatische Frauen und Dragqueens in alphabetischer Reihenfolge angeordnet. Sein Freund, der Poet Ralph Ward, hat diese jeweils mit einem Reimpaar versehen. Sowohl der unbeschwerte, dynamische Zeichenstil, der mit den porträtierten Frauen kongruiert, als auch die in ungezwungener Schreibschrift verfassten Verse, verleihen den Arbeiten lebendige Leichtigkeit. Dennoch wird bei näherer Betrachtung klar, dass viel Planung hinter dem Projekt steckte. So lässt beispielsweise die Vielzahl an Rechtschreibfehlern die Reime als spontane Notizen erscheinen, bei näherer Lektüre wird jedoch eine bewusst gewählte Methodik zum angenommenen Wahnsinn enthüllt: Denn so gut wie nie ist der Text eine Beschreibung der von Warhol gelieferten Zeichnungen. Vielmehr beschreibt er die Garderobe sowie den generellen Modegeschmack der Protagonistin der Serie:

A was a lady / who went shopping at Sacks
B were her bundles / including toy jacks
C was her coat / Styled well front / and back
…

Abgesehen davon, dass Lady A nicht die typische Saks-Kundin darstellt, trifft die textuelle Beschreibung auch bei den folgenden Frauen nicht zu. "Reading the rhymes makes apparent that the link between image and text is not an illustrative one. These components have in common an emphasis on Women with certain skills: While the images focus on women who know how to perform, the verses celebrate the fashionable lady" schreibt Nina Schleif in ihrer Publikation und begründet diese Diskrepanz mit Warhols Faszination für Charisma auf der einen, optische Schönheit auf der anderen Seite.

Die Ladies

Jede einzelne der porträtierten Frauen stand im Rampenlicht: Schauspielerin Hermione Gingold beispielsweise war der Prototyp für Lady B, die Dichterin, Kritikerin und Übersetzerin Marianne Moore, die 1952 sowohl den Pulitzer Preis als auch den National Book Award für ihr Werk Collected Poems gewann, beschreibt Lady C, und die Schauspielerin, Tänzerin und Broadway-Sängerin Ann Pennington stellt gleich drei der Ladies dar, nämlich D, J und L. G und M hingegen haben Männer in Drag zum Vorbild, zum einen den Makeup Artist Billy Loew, zum anderen den Fotografen Otto Fenn. Warhols Arbeit kann dementsprechend als "positive gender representation" verstanden werden, die Genderkategorien und Hierarchien gleichermaßen ignoriert und sowohl damals als auch heute seiner Zeit weit voraus scheint.

"He embraced and celebrated these successful women and, what is more, the men in drag among them. The womanhood that emerges thus is a truly encompassing one," resümiert Nina Schleif im Unterkapitel zu Ladies´ Alphabet - "The Subject Matter". Noch stärker ließ sich Warhol auf die Kunst des Geschlechter- und Rollenwechsels mit seiner zweiten Serie ein: Porträts von Männern in höchst femininer Aufmachung. Und obgleich die Accessoires und das Makeup ihre weibliche Seite hervorheben, bleiben ihre männlichen Attribute wie Moustache oder Adamsapfel sichtbar.
Diese Offensichtlichkeit verleiht den Fotografien etwas Provokantes, was wohl auch der Grund dafür war, warum sie nie veröffentlicht wurden. Deutlich wird jedenfalls schon hier die Auseinandersetzung Warhols mit der bis heute aktuellen Geschlechterfrage.

"In every human being a vacillation from one sex to the other takes place, and often it is only the clothes that keep the male or female likeness, while underneath the sex is the very opposite of what it is above," (Virginia Woolf, zitiert in Drag & Draw).

AVIVA-Tipp: "Drag & Draw. The Unknown Fifties" befasst sich mit Andy Warhols frühen Zeichnungen aus den 1950er Jahren, in denen starke, erfolgreiche Frauen sowie deren männliche Kolleg/innen in Drag im Fokus stehen. Ein Tribut an das Frausein und die Transgender Community, die bis heute um Anerkennung kämpft.

Nina Schleif
Andy Warhol. Drag & Draw. The Unknown Fifties
Hirmer, erschienen im September 2018
144 Seiten, 142 Farbillustrationen, Hardcover
Text: Englisch
ISBN: 978-3-7774-2977-9
34,90 €
Mehr zum Buch unter: www.hirmerverlag.de

Zur Autorin: Dr. Nina Schleif, geboren 1970 in Düsseldorf, studierte Kunstgeschichte und Amerikanistik in Philadelphia, München und Frankfurt am Main. Von 2004 bis 2014 war die Kunsthistorikerin, Amerikanistin, Kuratorin und Autorin an den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München tätig, seit 2008 als Kuratorin des dort betriebenen Museums Brandhorst, wo sie bis 2014 an zahlreichen Ausstellungsprojekten beteiligt war.
Im Jahre 2013 initiierte und kuratierte sie dort die weltweit erste Ausstellung zu Andy Warhols Werk in Büchern. Sie war zudem Herausgeberin und Koautorin des Ausstellungskatalogs "Reading Andy Warhol". 2014/15 war sie als Forschungsstipendiatin an der renommierten Smithsonian Institution in Washington, wo sie ihre Monografie zu Andy Warhols frühen Zeichnungen -"Andy Warhol. Drag & Draw. The Unknown Fifties"- verfasste.

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Beitrag vom 07.10.2018

Tina Schreck