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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 09.09.2018


Eva Ruth Wemme, Silvia Cristina Stan - Amalinca
Bärbel Gerdes

Zum richtigen Zeitpunkt erscheint der Roman über zwei Freundinnen, einer Gadscha und einer Romni, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Schneiderin und Sozialassistentin Silvia Cristina Stan und ihre Freundin, die Übersetzerin und Dramaturgin Eva Ruth Wemme zeigen, wie neugierige und interessierte Zugewandtheit alle Grenzen überwinden kann.




Gleich zu Beginn stellen die beiden Autorinnen klar, dass die zwei Frauen in ihrem Roman ihnen zwar ähneln, doch dennoch fiktiv sind. Cireașa spricht alles auf ein Aufnahmegerät, Miri schreibt beider Erzählungen auf. Ihren kleinen Söhnen wollen sie diese Geschichte und Geschichten widmen, die seit ihrer Geburt Freunde sind. Sie wollen keine neue Sprache erfinden, sagen sie. "Es ist die alte Sprache, in der wir uns über die Feindschaft zwischen den Gadsche und den Roma hinwegsetzen, nicht ohne Verluste, aber geistesgegenwärtig, sehnsüchtig."

Romanes ist die Sprache der Romnja*, jene Volksgruppe, die im 13. und 14. Jahrhundert von Indien und dem heutigen Pakistan nach Mittel-, West- und Nordeuropa gekommen ist. Als "Zigeuner" und "fahrendes Volk" verachtet, verfolgt und ermordet, bilden sie heute die größte ethnische Minderheit in Europa. Schätzungsweise 500.000 Menschen wurden in den deutschen Konzentrationslagern gemordet. Erst seit 2012 erinnert in Berlin ein Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas an die Opfer. Der Begriff Sinti wird übrigens nur im deutschen Sprachraum verwendet und bezeichnet die Nachfahren der Romnja*-Gruppen, die bereits im 14. und 15. Jahrhundert in den deutschsprachigen Raum eingewandert sind.

Nach wie vor werden die Roma in den meisten Ländern diskriminiert, ausgegrenzt und verfolgt. Vorurteile bestimmen das Bild, das viele Menschen von ihnen haben. Entsprechend groß ist das Bedürfnis nach Zusammenhalt und Sicherheit, nach Abgrenzung. Als Gadsche werden diejenigen bezeichnet, die nicht zur Gruppe der Romnja* gehören.

Die Kluft zwischen Deutschen und Romnja* ist groß, sie ist "alt und gefahrvoll, in ihr hat sich alles gesammelt, was Menschen an Schlimmem kennen: Gleichgültigkeit, Hass, Brutalität, Mord, Verachtung, Angst, Hohn."

Cireașa und Miri erzählen sich und ihren Söhnen von ihrer Kindheit. Miri wuchs in einem deutschen Elternhaus auf, in dem es Musik und Bücher gab, in dem das junge Mädchen schnell seine Begeisterung für das Lesen und Schreiben entdeckte, in dem sich die Eltern, die aus der DDR geflohen waren, gegen den Staatssozialismus stellten.

Ganz anders erlebt Cireașa ihr Leben: In Rumänien geboren, war sie als Kind ständig draußen, immer in den Feldern, auf der Straße, im Garten. Sie genoss diese Freiheit und Wildheit. Es gab keine Schulbücher, nur zwei Hefte, eines mit Linien, eines mit Kästchen. "Ich habe nicht gelernt, um zu lernen und immer mehr zu lernen und dann aufs Sofa zu fallen und zu schlafen", sagt sie.

Die beiden Frauen gehen den Spuren ihrer Kindheit und Jugend nach. Noch wissen wir als Leserin nicht, wie sie sich kennengelernt haben, wie sie in dieser Unterschiedlichkeit überhaupt Freundinnen werden konnten. Gerade das ist das Bezaubernde an diesem Roman. Beide erzählen einfach. Wir lernen beider Leben kennen, beider Freuden und Leiden, wir lernen zwei Frauen kennen. Jede Lebens-Geschichte ist auf ihre Weise spannend und interessant, traurig und lustig. Wir begegnen zwei Menschen. "Wir benahmen uns so, als wären wir nicht Romni und Gadscha, sondern sie und ich."

Wir lernen zwei unterschiedliche Kulturen kennen, bekommen einen kleinen Einblick in das Handeln und Denken "der Deutschen" / "der Roma". Wir erfahren, nach welchen Gesichtspunkten Entscheidungen getroffen werden, seien es rationale, seien es Weissagungen – und wer vermag zu sagen, welche valider ist?

Erst ganz zum Schluss kommen Differenzen zum Vorschein, die auch schwierig und befremdend sind, wo die Kluft nicht ohne Weiteres überbrückt werden kann. Als Cireașa mit ihrer Familie nach Deutschland zieht, keine Wohnung findet, kein Geld bekommt, keine Arbeit, wird klar, dass sie ihren Sohn nicht dagegen schützen kann und dass in Deutschland kaum jemand die Romnja* unterstützt oder wahrnimmt.
Nur wenn Romnja* auf den Straßen ihre Wunden zeigen, ihre gebeugten Rücken und blutigen Hände, werden sie wahrgenommen – als schamlos. "[Ich] denke, dass diese Männer und Frauen vielleicht nur einen letzten Versuch unternehmen, die Wirklichkeit für die Gadsche endlich sichtbar zu machen", schreibt Miri und fährt resigniert fort, "Und dass es ihnen sogar jetzt und mit diesen Mitteln nicht gelingt."

AVIVA-Tipp:Eva Ruth Wemme und Silvia Cristina Stan haben mit diesem Roman eindrucksvoll dargestellt, wie spannend es sein kann, einander mit Interesse und möglichst vorurteilsfrei zu begegnen. Sie zeigen aber auch, wie viel Macht die gesellschaftliche Realität dem entgegenstellt.

Zu den Autorinnen:

Eva Ruth Wemme
wurde 1973 in Paderborn geboren und studierte in Köln, Berlin und Bukarest Rumänistik, Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft. Sie arbeitete als Dolmetscherin in der JVA Moabit. 2008 wurde sie Dramaturgin im Schauspielhaus Chemnitz. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin und ist Sprach- und Kulturmittlerin für Neuankömmlinge aus Rumänien. Sie erhielt zahlreiche Stipendien und wurde 2008 mit dem Rotraud-Danker-Preis ausgezeichnet. 2015 erschien ihr Buch Meine 7000 Nachbarn, Erfahrensberichte über in Berlin lebende Romnja*. Eva Ruth Wemme übersetzte u.a. Norman Manea und Nicoleta Esinencu. Sie lebt in Berlin.
Mehr Infos zur Autorin: www.evaruthwemme.de

Silvia Cristina Stan wurde 1989 in Fantanele bei Bukarest geboren und machte eine Ausbildung zur Schneiderin. 2012 emigrierte sie nach Berlin und arbeitet in verschiedenen Projekten und Bereichen als Sozialassistentin.

Eva Ruth Wemme, Silvia Cristina Stan
Amalinca

Verbrecher Verlag, erschienen am 28. August 2018
Broschur, 216 Seiten
ISBN 978-3-95732-339-2
16.00 Euro
Mehr zum Buch unter: www.verbrecherverlag.de
Lesungstermine unter: www.verbrecherverlag.de

Mehr Infos:

Romaniphen, ein selbstorganisiertes, feministisches Rromani Projekt: www.romnja-power.de

Die Initiative IniRomnja: inirromnja.wordpress.com

Der Zentralrat deutscher Sinti und Roma sowie das Dokumentations- und Kulturzentrum deutscher Sinti und Roma: www.sintiundroma.de

Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas: www.stiftung-denkmal.de

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