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Beitrag vom 19.07.2018
Antje Wagner - Hyde
Bärbel Gerdes
Zwei Mädchen, die unter mysteriösen Umständen bei ihrem Vater aufwachsen, ein Haus, das versteckt im Wald liegt, eine Wahrsagerin, die das Auto ihrer Tochter zumüllt – Antje Wagner, mehrfach ausgezeichnete Autorin, die in den Kanon der 20 besten SchriftstellerInnen unter 40 aufgenommen wurde, hat wieder einen packenden Jugendroman geschrieben, der durchaus auch Erwachsene fesselt.
"Es war eine einzige große Unglaublichkeit, aber manchmal […] war gerade das Unglaubliche das überzeugendste Detail an einer Geschichte." Mit diesem Satz könnten alle Romane von Antje Wagner überschrieben werden. Ob wie in Vakuum plötzlich die Zeit stehen bleibt oder die Leserin sich mit der seltsamen Polly in Schattengesicht auf Spurensuche begibt, die Autorin versteht es, von der ersten Seite an alle in ihren Bann zu schlagen.
Nicht anders ist es in Hyde. Hyde ist der Name des Hauses, in dem Katrina zu Hause war und nach dem sie sich sehnt. Sie ist in ihrer Zimmerfraukluft auf der Walz, um Geld zu verdienen – Geld, für ihre Kriegskasse. Sie trägt ein Tuch vor dem Mund, das sie nie abnimmt, und hat ein schwaches linkes Bein, das sie nachzieht. Schon auf den ersten Seiten erfahren wir von der Gefangennahme, von Gloria und von Josefine, die eine unglaubliche Stimme hat: "Rau, bellend. Wie ein lachender Hund." Bei Antje Wagner kennen sich die Personen "irgendwie. Nicht aus der Wirklichkeit. Aus einer Sehnsucht".
Und weil es einen Racheplan gibt, von dem ein kleiner Teil schon erledigt ist, der größere jedoch noch aussteht, weil es Zoe gibt, ihre Schwester, deren Stimme stets in Katrinas Kopf ist, und weil das Leben in Hyde so seltsam geregelt ist - "Papa hatte von Anfang März bis Ende Mai keine Angst um uns, denn nicht der Wald war der Feind. Ab Juni aber mussten wir versprechen, jede Dunkelheit zu meiden, jedes Dämmer-, Halb- und Zwielicht." - aus all diesen Gründen verstecken auch wir unsere Köpfe in Hyde und mögen sie nicht mehr heben.
Seit den 90iger Jahren gibt es die sogenannte All-Age- oder Crossover-Literatur, eine Literatur, die altersübergreifend mehrere Gruppen ansprechen soll. Berühmteste Beispiele sind sicherlich die Harry-Potter-Bände von Joanne K. Rowling und Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie. Oft ist dieses Genre geprägt von Fantasy-Elementen. Auch der Buchmarkt hat diese Entwicklung kräftig gepusht, indem die Verlage unterschiedliche Ausgaben veröffentlichten, einmal für Jugendliche, einmal für Erwachsene.
Antje Wagner reiht sich hier gut ein. Ihr schillerndes und außergewöhnliches Personal zieht alle Altersgruppen an. Das Unheimliche, Verborgene, Rätselhafte ist ihr Metier, das sie wunderbar beherrscht. Wer ist Dr. Sonnenkalb? Was geschah in der Wohngruppe und wo ist Zoe?
Auch in diesem Band geht es, wie schon in Der Schein, das Antje Wagner gemeinsam mit Tania Witte unter dem Pseudonym Ella Blix schrieb, um (Vor-)Urteile. "Es ist leichter, etwas Ungewohntes abstoßend zu finden, als es zu mögen", stellt Katrina fest. "Es erfordert weniger Fantasie."
Mit Katrina hat die Autorin wieder ein sehr starkes und besonderes, ein kämpferisches Mädchen erschaffen.
"Ich stand auf der einen Seite, ganz allein, und mir gegenüber – die anderen.". Stilistisch und sprachlich ist der Roman wunderbar. Zahlreiche Metaphern bringen den Text zum Schillern. Eine Bluse ist rauschgiftweiß, der Autoscheinwerfer wirft eine Zunge aus Licht.
Mit angehaltenem Atem begleiten wir Katrina auf ihrer Reise in ein ungeheures Geheimnis. "Ab Juni war die Schonzeit zu Ende. Die Jagdsaison begann."
AVIVA-Tipp Antje Wagner hat einen superspannenden Roman mit starken weiblichen Hauptfiguren geschrieben, der sich für alle Altersgruppen ab 15 Jahren eignet. Liebhaberinnen von Fantasy-Romanen kommen genauso auf ihre Kosten wie Leserinnen, denen Freiheit und Stärke wichtig sind: ein Roman zum Versinken.
Zur Autorin: Antje Wagner, 1975 in Lutherstadt Wittenberge geboren, studierte deutsche und amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften in Potsdam und Manchester. Sie übersetzt aus dem Englischen und schreibt Romane und Erzählungen für Jugendliche und Erwachsene. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung nahm sie 2012 in den Kanon der 20 besten deutschsprachigen Autoren unter 40 Jahre auf. Mit ihren Jugendbüchern "Unland", "Schattengesicht" und "Vakuum" hat sie sich bereits einen Namen gemacht und steht für außergewöhnliche Mysteryromane. Zuletzt erschien gemeinsam mit Tania Witte unter dem Pseudonym Elly Blix Der Schein. Antje Wagner ist gerne und viel auf Lesungen unterwegs und erhielt bereits mehrfach Stipendien. Sie lebt in Hildesheim und Potsdam.
Mehr Infos: www.wagnerantje.de
Antje Wagner
Hyde
Verlag Beltz & Gelberg, erschienen am 16. Juli 2018
408 Seiten
Ab 15 Jahre
ISBN 978-3-407-75435-6
17,95 Euro
Mehr zum Buch: www.beltz.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Ella Blix - Der Schein
Fast 500 Seiten Hochspannung erzeugt der Roman des Autorinnenduos Tania Witte und Antje Wagner. Ella Blix, so das Pseudonym der beiden, hat einen atemlosen, geheimnisvollen und sensiblen Jugendroman mit tollen Ingredienzien geschrieben: eine eingeschworene Clique in einem Internat, eine Ostseeinsel und ein dunkles Schiff am Horizont. (2018)
Antje Wagner (Hrsg.): Unicorns don´t swim
Selbstprogrammierte Computerspiele mit Einhorn, in der Halfpipe skaten oder die erste Verliebtheit. In der Anthologie "Unicorns don´t swim" finden alte Mädchenstereotypen coole Gegenentwürfe. (2016)
Antje Wagner - Vakuum
Die mehrfach ausgezeichnete Autorin packt den Horror in ihre Jugendbücher - ohne liebestolle Vampire. Im neuen Roman bleibt die Welt in einem unerklärlichen Nebel stehen, der alles verschluckt bis auf fünf Jugendliche. (2012)
Antje Wagner - Schattengesicht
Wechselnde Städte, verlassene Häuser, schlechtbezahlte Schwarzarbeit, Angst vor der Polizei und der Tod als ständiger Begleiter - Im Leben von Mila und Polly ist keine Spur Bonny-und-Clyde-Romantik der jungen Autorin, die 2009 mit "Unland" national bekannt wurde, ist ein im doppelten Sinn unheimlich gutes Buch gelungen. (2010)
Antje Wagner - Unland
Das 14-jährige Pflegekind Franka zieht von Berlin in ein kleines Dorf in Sachsen-Anhalt. Unheimliches passiert hier in den Wäldern rundum die Ruinen von Unland. Ein Jugendbuch-Krimi von Antje Wagner. (2009)
Antje Wagner - Ein Zimmer im Briefumschlag
Als Stadtschreiberin von Erfurt setzte sich Antje Wagner von Anfang April bis Ende Juli letzten Jahres mit den Impressionen der thüringischen Landeshauptstadt auseinander. Ob ihre Liebesbriefe das Produkt "eines literarischen Arbeitstagebuches" waren, oder ob sie in der Einsamkeit der Stadtschreiberwohnung ein Gegenüber vermisste, und es sich durch das Verfassen dieser epistulas erschuf, ist eine unbeantwortete Frage. Zumindest erschienen die Ergebnisse in einer Reihe von Kolumnen der "Thüringer Allgemeinen" Samstagsausgaben. (2007)