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Beitrag vom 28.06.2018
Elizabeth Strout - Die Unvollkommenheit der Liebe
Bärbel Gerdes
Während der englische Originaltitel "My Name is Lucy Barton" uns gleich mit der Protagonistin bekannt macht, klingt im deutschen Titel das Grundthema dieses Romans an. Die US-amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Strout beschreibt wie schon in ihrem Roman "Amy und Isabelle" (ausgezeichnet mit dem Los Angeles Times Book Prize und verfilmt) eine Mutter-Tochter-Geschichte, die nicht so einfach ist.
Lucy Barton, angehende Schriftstellerin – oder ist sie es schon durch das Aufschreiben dieser Erinnerungen? - denkt zurück an ihren Krankenhausaufenthalt vor vielen Jahren. Damals war sie eine junge Frau, Mutter zweier Töchter und verheiratet mit William.
Lucy muss sich einer Blinddarmoperation unterziehen, ein Routineeingriff, doch sie bekommt plötzlich Fieber, die Blutwerte verändern sich, niemand kennt die Ursache.
Während Lucy neun Wochen im Krankenhaus liegt, kümmert sich William um die beiden Töchter, so dass er seine Frau kaum (oder gar nicht?) besuchen kann. Stattdessen schickt er Lucys Mutter. Die beiden haben sich viele Jahre nicht gesehen. Mit einem Flugzeug ist sie aus Illinois gekommen, wo Lucy unter ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen ist.
Fünf Tage bleibt die Mutter Tag und Nacht am Bett der Tochter sitzen, erzählt von gescheiterten Ehen in ihrem Umfeld und ein wenig auch von ihren anderen Kindern, nennt die Tochter bei ihrem Kosenamen Wizzle und schläft nie.
Durch diesen Besuch erinnert sich Lucy: an die Hänseleien der Kinder in der Schule, weil "die Bartons stinken!", an die Garage, in der die Familie wohnte, und an den Pick-up, in den Lucy als Kind gesperrt wurde, wenn die Eltern zur Arbeit gingen.
Elizabeth Strout ist eine Meisterin der Atmosphäre. Wir Leserinnen sitzen gleichsam auf der Bettkante und lauschen den Gesprächen der beiden. Wir haben die Gelegenheit, die beiden zu beobachten, die sich seltsam vertraut und doch so fremd sind. "Ich wollte, dass meine Mutter sich nach meinem Leben erkundigte. Ich wollte meiner Mutter von dem Leben erzählen, das ich jetzt führte." Doch die Mutter fragt nicht, überhaupt werden die wesentlichen Dinge ausgespart.
Gleichzeitig vermittelt sich die Hilflosigkeit und, nun ja, Unvollkommenheit im Ausdruck der Liebe füreinander.
Elizabeth Strout ist eine routinierte Schriftstellerin. Gleich ihr erster Roman, eben jener oben genannte Amy and Isabelle wurde mit dem Los Angeles Times Book Prize ausgezeichnet und auch verfilmt. Die faszinierende Gestalt Olive Kitteridge, die in Deutschland in Mit Blick aufs Meer das Lesepublikum begeisterte, verhalf Strout unter anderem zum Pulitzer-Preis. Auch dieses Werk wurde verfilmt. Die Unvollkommenheit der Liebe, das jetzt als Taschenbuch erschien, landete 2016 auf der Shortlist des Man Booker Prize.
Auch diesen Roman kann frau sich gut als Drehbuch vorstellen: die fast behagliche Dunkelheit im Krankenzimmer, der sich rührend um Lucy kümmernde und sie verstehende Arzt, die Erinnerungen in Rückblenden und Lucy Bartons Entwicklung zur Schriftstellerin.
"Sie schreiben über einen Mann, der jeden einzelnen Tag seines Lebens zerquält wird von dem, was er im Krieg getan hat. Sie schreiben über eine Ehefrau, die bei ihm geblieben ist, weil das in dieser Generation so üblich war, und diese Frau kommt zu ihrer Tochter ins Krankenhaus und erzählt zwanghaft von lauter kaputten Ehen... Sie schreiben über eine Mutter, die ihre Tochter liebt". So die Schriftstellerin, bei der Lucy Barton einen Schreibkurs besucht.
Denn nicht Elizabeth Strout schreibt diesen Roman, sondern Lucy. Wenn er also gelegentlich ins Kitschige abdriftet, wenn der überirdische Arzt allzu sehr am Wunschhimmel schwebt, dann hat Lucy Barton gepatzt.
Trotz dieser leichten Geigenmusik im Hintergrund ist es ein gut lesbarer und gut unterhaltender Roman, der an vielen Stellen berührt.
Und immer wieder ist es schön zu lesen, wenn Frauen über sich sagen: "Ich bleibe nicht in einer Ehe, in der ich nicht bleiben will, und ich höre auf mich selbst und stürze mich hinein in den Strom, der mich weitertreibt durchs Leben, kreiselnd und blind, aber Hauptsache, weiter!"
AVIVA-Tipp: Elizabeth Strout hat einen sehr besonderen Roman über eine Mutter-Tochter-Beziehung geschrieben. Die Vielschichtigkeit, aber auch Unzulänglichkeit der Liebe beleuchtet sie von vielen Seiten.
Zur Autorin: Elizabeth Strout wurde 1956 in Portland, Maine geboren. Sie studierte Jura und Gerontologie. Nebenher begann sie mit dem Schreiben von Kurzgeschichten. 1998 erschien der Roman Amy and Isabelle, der ein Jahr später mit dem Los Angeles Times Book Prize ausgezeichnet wurde. 2001 wurde das Buch verfilmt. 2005 folgte Abide with me (dt. 2014 u.d.T. Bleib bei mir). Der Durchbruch gelang ihr 2007 mit Olive Kitteridge (dt. 2010 u.d.T. Mit Blick aufs Meer. Dieser Roman wurde 2009 mit dem Pulitzer Preis und 2010 mit dem Premio Bancarella geehrt. Er wurde ebenfalls ausgezeichnet. Ihr neuester Roman erschien 2017 unter dem Titel Anything is Possible. Elizabeth Strout arbeitete als Dozentin für Kreatives Schreiben. Sie lebt in Maine und New York City.
Mehr Infos auf ihrer Website: www.elizabethstrout.com
Die Filmografie zu Elizabeth Strout ist online unter: www.imdb.com
Zur Übersetzerin: Sabine Roth wurde 1963 in München geboren und studierte Anglistik, Germanistik und Amerikanistik in München, Toronto, Canterbury und Oxford. 1997 erhielt sie den Bayerischen Literaturförderpreis. 2009 wurde ihr Übersetzungsprojekt der Neuübersetzung des Romans Persuasion von Jane Austen mit einem Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern gefördert. Roth übersetzte AutorInnen wie Henry James, Agatha Christie, John Le Carré, V.S. Naipaul, Elizabeth Strout und Lemony Snicket. Sie lebt in München.
Elizabeth Strout
Die Unvollkommenheit der Liebe
Originaltitel: My Name is Lucy Barton
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
Verlag btb, erschienen 10. April 2018
206 Seiten, Taschenbuch, Broschur
ISBN 978-3-442-71657-9
10.00 Euro
Mehr zum Buch: www.randomhouse.de