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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 27.06.2018


Martina Bick - Musikerinnen der Familie Mendelssohn. Jüdische Miniaturen 202 bei Hentrich & Hentrich
Julia Baudis

Die Schwestern, die Mutter, die Großmutter, die Großtante: Heute sind sie am ehesten als Verwandte des wohl bekanntesten Musikers der Familie Mendelssohn, Felix Mendelssohn, ein Begriff, als eigenständig wirkende und wirksame Musikerinnen jedoch nahezu vergessen. Mit Rebecka Dirichlet, Fanny Hensel, Lea Salomon, Sara Levy und Bella Salomon stellt die Musikwissenschaftlerin Martina Bick...




… knapp und prägnant fünf Frauen der die europäische Musikkultur so nachhaltig prägenden Familie vor.

Zu ihren Lebzeiten als Veranstalterinnen, Pianistinnen oder Komponistinnen durchaus bekannt, gerieten sie später weitgehend in Vergessenheit. Inzwischen ist Fanny Hensel zumindest Musikinteressierten wieder zunehmend ein Begriff, doch weitere Musikerinnen der Familie, die die Entwicklung der europäischen Musikkultur über Generationen hinweg mitprägten, finden noch immer kaum Beachtung: darunter Sara Levy, geb. Itzig, eine "Schlüsselfigur der Bachrenaissance", deren Nichte Lea Mendelssohn, geb. Salomon, nicht nur eine hervorragende Pianistin, sondern auch eine begnadete Veranstalterin und Netzwerkerin war. Auch Rebecka Dirichlet, nach Fanny Hensel und Felix Mendelssohn das dritte Kind Lea und Abraham Mendelssohns, ist als vielseitige Musikerin und Veranstalterin wiederzuentdecken. Fünf Frauen stellt die Musikwissenschaftlerin Martina Bick in dem gerade einmal 80 Seiten umfassenden Bändchen vor, das neben dem Quellenverzeichnis auch zahlreiche überwiegend zeitgenössische Abbildungen beinhaltet. Genaugenommen könnte der Titel auch "Musikerinnen der Familie Itzig" lauten, rückt doch vor allem die Familie Lea Salomons mütterlicherseits in den Blick.
Ein vorangestellter Stammbaum sorgt dabei für den nötigen Überblick über die Verwandtschaftsverhältnisse. Ausgehend vom Ehepaar Lea und Abraham Mendelssohn stellt Bick zunächst die Familien Itzig, Salomon und Mendelssohn vor und liefert zugleich einige Informationen zum historischen Hintergrund.

Sara Levy und ein vergessener Komponist

Im Hause Daniel und Miriam Itzigs stand neben gründlicher Allgemeinbildung religiöse Offenheit und Toleranz bei gleichzeitiger Achtung vor der eigenen jüdischen Tradition im Vordergrund, außerdem eine hervorragende musikalische Ausbildung der Kinder. Besonders dem Werk Johann Sebastian Bachs wurde dabei große Bedeutung zugemessen - zur damaligen Zeit nicht gerade üblich, denn Bach drohte Ende des 18. Jahrhunderts in Vergessenheit zu geraten. Die 1761 in Berlin geborene Tochter Sara Levy war als Cembalistin über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt, als Notensammlerin schrieb sie Musikgeschichte.

Schon bevor sich die Singakademie zu Berlin durch die Wiederaufführung der Bach´schen Matthäuspassion unter der Leitung von Felix Mendelssohn verdient machen sollte, bildete die Musik Johann Sebastian Bachs einen Schwerpunkt des Repertoires. Möglich wurde diese Arbeit und damit die "Wiederbelebung" Bachs nicht zuletzt dadurch, dass Sara Levy die von ihr angelegte Notensammlung zur Verfügung stellte - eine Sammlung, die heute als eine der bedeutendsten und umfangreichsten ihrer Zeit gilt.

Bella Salomon und die Religion

Über die zwölf Jahre ältere Schwester Sara Levys, Bella Salomon (1749-1824), ist als Musikerin bislang vergleichsweise wenig bekannt. Martina Bick rückt im ihr gewidmeten Kapitel vor allem auf das Thema Religion ein. Eine Konversion kam für Bella Salomon auf keinen Fall in Frage und sie lehnte sie auch für ihre Familie strikt ab. Das Zerwürfnis mit ihrem Sohn Jacob Salomon, getaufter Bartholdy, konnte erst auf Bitten der Enkelin Fanny beigelegt werden.
Was Bella Salomon nicht wusste: Auch ihre Tochter Lea und deren Mann Abraham Mendelssohn - ein Sohn Fromets und Moses Mendelssohns - hatten 1816 ihre vier Kinder, Fanny, Felix, Rebecka und Paul, und sich selbst 1822 evangelisch taufen lassen und führten seitdem den Zunamen Bartholdy. Alternativen blieben ihnen kaum: Zwar galt das "Naturalisationspatent", das Leas Großvater Daniel Itzig von Friedrich Wilhelm II zugesprochen worden war, noch für dessen Kinder und Enkel*innen, die vier Mendelssohn-Kinder wären als Urenkel*innen aber wieder zahlreichen Repressionen unterworfen gewesen - erstrecht, da der Antisemitismus in Preußen Anfang des 19. Jahrhunderts neuen Aufschwung erfuhr.
Dass die Konversion nicht immer vor Diskriminierung schützte, zeigt die Ablehnung Felix Mendelssohns 1833 als Nachfolger Carl Friedrich Zelters bei der Singakademie: Man wollte die Leitung des Chores keinem "Judenjungen" überlassen. (Der "Judenjunge" war zu dem Zeitpunkt bereits ein 23-jähriger etablierter Dirigent und Komponist.)
Ziel der Anfeindungen jener Zeit waren nicht zuletzt gebildete jüdische Frauen als Veranstalterinnen kultureller Geselligkeiten, in denen schicht- und religionsübergreifend musiziert, diskutiert, gelesen wurde.

Räume und Schranken

Eine dieser Frauen war auch Lea Mendelssohn (1777-1842), eine hervorragende Pianistin, die erste Klavierlehrerin ihrer Kinder und Veranstalterin musikalischer Gesellschaften. Und schließlich diejenige, die die Tradition der "Sonntagsmusiken" einführte, die vor allem der Ausbildung und beruflichen Einführung des Sohnes Felix dienten. Eine gründliche musikalische Ausbildung war Abraham und Lea Mendelssohn auch für die Töchter ein wichtiges Anliegen. Fanny (1805-1847), die älteste, wurde über weite Strecken gemeinsam mit ihrem dreieinhalb Jahre jüngeren Bruder Felix unterrichtet. Unterschiede in den Inhalten gab es dennoch: Wenngleich ihr musikalisches Talent nie infrage gestellt wurde, war eine berufliche Laufbahn im Sinne einer Erwerbstätigkeit als Musikerin für sie nicht vorgesehen, und die Gründe sind vielfältig. Unter anderem sollte im Sinne (gut-)bürgerlicher Ideale das Einkommen der Männer und das vorhandene Vermögen den Wohlstand der Familie sichern, eine Erwerbstätigkeit der Frauen kam am ehesten dann infrage, wenn dies nicht ausreichte. Ansonsten war ihr Wirkungsfeld das Haus - allerdings das "offene - Haus", das als halböffentlicher Raum für Geselligkeiten und geistigen beziehungsweise kulturellen Austausch verstanden wurde.

Die Beziehung zwischen Fanny Hensel und Felix Mendelssohn war außerordentlich eng, auch was die musikalische Zusammenarbeit betrifft. Als sich Felix bereits als Komponist und Dirigent etabliert hatte, blieb ihm die Schwester eine wichtige Ratgeberin und Kritikerin. Zahlreiche Kompositionen Fanny Hensels und Felix Mendelssohns zeugen zudem von einer unmittelbar musikalischen, ausgesprochen regen und persönlichen Korrespondenz.

Dass sie sich erst in ihrem letzten Lebensjahr zur Veröffentlichung einiger Kompositionen entschloss, obwohl auch ihr Ehemann Wilhelm Hensel ihr sehr zuredete, lag nicht zuletzt an der ablehnenden Haltung ihres Bruders. Allerdings sagte dieser ihr für den Fall, dass sie sich dafür entscheiden sollte, seine volle Unterstützung zu, was leider unerwähnt bleibt. Dennoch kommt Martina Bick aber trotz der Kürze ohne übermäßige Pauschalzuschreibungen aus, die sonst zu Fanny Hensel gerade beim Thema Publizieren und Professionalisierung als Musikerin so häufig zu finden sind.
Zwar blieb der Großteil dennoch unveröffentlicht, doch waren Fanny Hensels Kompositionen zu ihren Lebzeiten durchaus bekannt - die damals übliche Verbreitung durch private Abschriften ist nicht zu unterschätzen.

Eine Entdeckung wert: Rebecka Dirichlet

Neben dem Bruder war gerade die jüngere Schwester Rebecka Dirichlet, geb. 1811 als Rebecka Mendelssohn, eine bedeutende "Triebfeder" ihres Komponierens: Die ausgezeichnete Sängerin war oft die erste Interpretin der Lieder Fanny Hensels (und in frühen Jahren auch der Felix Mendelssohns).
Bei ihren musikalischen Gesellschaften, die sie nach ihrem Umzug 1855 in Göttingen veranstaltete, waren u.a. Clara Schumann, Joseph Joachim und Johannes Brahms zu Gast. Gerade Rebecka Dirichlet ist auch mit Blick auf ihre politischen und gesellschaftlichen Positionen und ihre scharfsinnigen Beobachtungen interessant und leider noch viel zu wenig beachtet. Martina Bicks Porträt fällt denn auch der Quellenlage entsprechend kurz, aber prägnant aus.

Zur Autorin: Martina Bick, geboren 1956 in Bremen, studierte historische Musikwissenschaft, Neuere deutsche Literatur und Gender Studies in Münster und Hamburg und erforscht insbesondere die Musikgeschichtsschreibung unter Genderaspekten. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Referentin der Gleichstellungsbeauftragten an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und schreibt außerdem Romane, historische Romane, Kriminalromane und Kurzgeschichten. Ebenfalls im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen ist ihr Band "Ebba Agnes Simon und ihre Familie". (Quelle: Verlagsinformation.)
Mehr Infos unter: www.krimilexikon.de/bick

AVIVA-Tipp: Der Band "Musikerinnen in der Familie Mendelssohn" ist ein fundierter, nicht nur für Musikinteressierte spannender und sehr gut lesbarer Einstieg, der neugierig macht und dazu verführt, mehr über diese bis in die Gegenwart hinein bedeutsamen Frauen zu lesen!

Martina Bick
Musikerinnen in der Familie Mendelssohn

Verlag Hentrich & Hentrich, Jüdische Miniaturen 202, erschienen 2017
Sprache: Deutsch, 80 Seiten, Broschur, 16 Abbildungen
ISBN: 978-3-95565-196-1
8,90 €
Weitere Informationen zum Buch: www.hentrichhentrich.de

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Nachkommen von Moses Mendelssohn zu Gast in Berlin
Fast 300 Nachkommen des jüdischen Berliner Kaufmanns und Philosophen Moses Mendelssohn waren vom 12.- 14. Oktober 2007 zu Gast in Berlin.
Das Familientreffen fand auf Einladung des Berliner Senats anlässlich der abgeschlossenen Restaurierung der Grabstelen von Joseph und Henriette sowie Alexander und Marianne Mendelssohn auf dem jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee statt, die mit Hilfe der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der Stiftung Preußische Seehandlung und des Landesdenkmalamtes realisiert werden konnte. Jetzt als CD-ROM erhältlich: "Die Familie Mendelssohn. Stammbaum von Moses Mendelssohn bis zur siebten Generation". (2007)

Quellen

Quelle zu Sara Levy:
Bartsch, Cornelia: Sara Levy. In: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen. Hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske. Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff.
mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Sara_Levy

Quelle zum Zerwürfnis zwischen Bella Salomon und Jacob Bartholdy:
Hensel, Sebastian (Hg.): Die Familie Mendelssohn 1729-1847. Nach Briefen und Tagebüchern. Bd. 1. Berlin 1880. S. 89.

Quelle zu Felix Mendelssohns Ablehnung durch die Sing-Akademie und zur antisemitischen Ablehnung jüdischer Frauen: Olivier, Antje: Mendelssohns Schwester Fanny Hensel. Musikerin, Komponistin, Dirigentin. Düsseldorf: Droste 1997.

Quelle zu Ausbildung Fanny Hensels und zur Rollenzuweisung:
Bartsch, Cornelia: Fanny Hensel. In: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen. Hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske. Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff.
mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Fanny_Hensel

Quelle zu Fanny Hensels Beteiligung am Paulus und der Berliner Erstaufführung: Citron, Marcia (Hg.): The Letters of Fanny Hensel to Felix Mendelssohn. New York: Pendragon 1987. S. 523f., S. 538.

Quellen zum Thema Veröffentlichung bei Fanny Hensel und Felix Mendelssohn:
Bartsch, Cornelia: Fanny Hensel, geb. Mendelssohn. Musik als Korrespondenz. Kassel: Furore 2007. S. 12-34.
Mendelssohn, Fanny und Felix: Die Musik will gar nicht rutschen ohne Dich. Briefwechsel 1821 bis 184. Hg. v. Eva Weissweiler. Berlin: Propyläen 1997. S. 260.

Quelle zur Rezeption Fanny Hensels zu Lebzeiten:
Bartsch, Cornelia: Fanny Hensel. In: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen. Hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske. Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff.
mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Fanny_Hensel

Quelle zu Rebecka Dirichlet:
Bartsch, Cornelia: Rebecka Dirichlet. In: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen. Hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske. Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff.
mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Rebecka_Dirichlet



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Beitrag vom 27.06.2018

AVIVA-Redaktion