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Beitrag vom 14.06.2018
Monika Sznajderman - Die Pfefferfälscher. Geschichte einer Familie
Nea Weissberg
Das Buch der promovierten Kulturanthropologin und Leiterin des renommierten Verlags Czarne ist eine komplexe Recherche der Vergangenheit im familiären und kollektiven Gedächtnis im von NS-Deutschen besetzten Polen. West-Polen geriet im September 1939 unter deutsche Okkupation, Ost-Polen im Juli 1941. In "Die Pfefferfälscher Geschichte einer Familie" zieht sich ein Erzählstrang durch das gesamte facettenreiche Buch, indem Monika Sznajderman den Lebensweg ihres jüdischen Vaters Marek Sznajderman dessen Stationen Schritt für Schritt nachgeht, und, soweit es noch möglich ist, minutiös erforscht und historisch belegt.
"Doch das alles war in der alten Welt"
Dieses sich hinwendende Schreiben an und über den Vater, über den Nazi-Besatzungsterror und deren gezielten Mordaktionen in Polen bestimmen ihre hinterfragende und die LeserInnenschaft einbindende Schreibhaltung. Sie setzt behutsam Puzzle für Puzzle kleinteilig zusammen, um die Leerstelle zu füllen.
Das stark Aufrüttelnde an diesem Buch ist, dass die Eltern der Autorin aus zwei gänzlich konträren Familien herkommen: Väterlicherseits aus einer polnisch-jüdischen, assimilierten Familie. Mütterlicherseits aus einer polnisch-katholischen Gutsherrenfamilie, zur Oberschicht gehörend, die dem rechten polnischen Nationalismus unverhohlen sehr nahe stand.
Die Nationale Partei, war offen faschistisch, strebte ein "judenfreies Nachkriegspolen" an und "verkündete allgemein und lautstark antisemitisches Gedankengut und rief zur völligen Verdrängung der Juden aus dem öffentlichen Leben auf." Mehr als hundert von den Nationalisten angestachelte Pogrome wüteten von Mai 1935 bis September 1937 in ganz Polen.
Die tiefgründige und feinsinnige Beschreibung Monika Sznajdermans, die mutig hinschaut, die versucht, die Vielschichtigkeit ihrer beider auseinanderdriftenden Familienherkunftsseiten und ihres polnischen Heimatlandes genau zu beleuchten, wie zu überprüfen, ist einnehmend. Die Autorin führt uns unabwendbar vor, wie extrem unterschiedlich sich "Beidseits von Auschwitz" anfühlt: "...zwei nebeneinander bestehende Wirklichkeiten existierten, die einander überlagerten, sie funktionierten in einer identischen Umgebung, doch in Wahrheit hatten sie voneinander nicht die leiseste Ahnung."
Monika Sznajderman, 1958 geboren, promovierte Kulturanthropologin und Leiterin des renommierten Verlags Czarne, den sie mit ihrem Ehemann, dem Autor Andrzej Stasiuk, gegründet hatte, erfuhr erst vor fünf Jahren - als eine gut erhaltene Fotosammlung aus Übersee von Verwandten ankam - von diesem dem Vater Nahestehenden in die USA emigrierten jüdischen Familienzweig. Die Fotos erweisen sich als eine wahre Schatztruhe, entfalten sich zum Auslöser ihrer Recherche. Die Lichtbilder berühren sie so sehr, dass der Herzenswunsch entsteht, Details über ihren ihr fremden jüdischen Familienzweig zu erkunden, den sie als exotisch wahrnimmt.
"Ich präge mir ihre Gesichter und Gestalten ein, sammle Details, katalogisiere Kleidungen und Verkleidungen, hasche nach Augenblicken und verfolge Gefühle, ich schaue genau, wo die Sonne Flecken hinterließ, ich sammle Teilchen eines Lebens, das spurlos verschwunden ist. Denn mehr ist mir von ihnen allen nicht geblieben."
Fotos, Prospekte, Zeitungen aus jener Zeit, Belege aus Archiven, ZeitzeugInnenberichte, literarische Texte anderer Holocaustüberlebenden bezeichnet sie als Beweismaterial. Kein Trugschluss! Sie vergewissert sich immer wieder aufs Neue: Es existiert ein jüdischer Familienstammbaum in der damaligen, wirklichen Wirklichkeit, den sie wie ein zartes Pflänzchen literarisch und sensibel zugleich auf dem Papier erblühen lässt.
In ihrer Imagination ihren Vater fragend, schreibt sie: "Was hat deinen Großvater in der gelesenen Zeitung interessiert? Ich schaue sie durch und versuche mir das vorzustellen. Das ist meine Art, sie wieder ins Leben zurückzurufen oder in ihre Welt einzutauchen."
Es gelingt Sznajderman, einen tief bewegenden Bericht der geschichtlichen Geschehnisse, in Kapiteln eingeteilt, aufzuzeichnen, der deshalb so zerreißend ist, weil er beide Familienseiten ohne Wenn und Aber darstellt. Ein paralleles Universum. Die polnisch christliche Seite - zu viele von ihnen ohne den menschlichen Blick für die auf der anderen Seite, deren Lebensrecht als Juden und Jüdinnen abgesprochen wurde.
Ihre jüdische Großmutter, Amelia Rozenberg, war eine gebildete höhere Tochter, sprach mehrere Sprachen, liebte das Leben, war kreativ, kapriziös und begabt. Sie schrieb Erzählungen, ließ sich gern fotografieren, tanzte gern und schrieb liebreizende Briefe.
Die im Buch abgebildeten Fotografien "haben den Krieg physisch unversehrt überdauert, unverletzt durch die Shoah. Die Abzüge wurden fachmännisch entwickelt, das Fixiersalz gründlich abgespült, wofür es während des Krieges weder die Zeit noch den geeigneten Ort gab. Aus diesem Grund sind auf den meisten Bildern aus der Zeit der Shoah braune Schlieren zu sehen, rostfarbener Belag, Wasserflecken und Schatten. Aber auch auf den scheinbar unangetasteten Fotografien glaubt man einen Schatten zu sehen, allerdings keinen wirklichen, keinen materiellen. Es ist der Schatten der heraufziehenden Zeit, weil wir mehr wissen, weil wir das Ende kennen."
Die andere Großmutter, die Gutsherrentochter Maria Lachert, sie sprach auch mehrere Sprachen, wirkte entschlossen und emanzipiert, trank gerne Whiskey, spielte Bridge und rauchte Zigaretten. In den großbürgerlichen Kreisen, eine in sich geschlossene Gesellschaft, in denen sie aufwuchs, gehörte ehrenamtliches Helfen zur Tradition und Pflicht der Gutsbesitzergattinnen.
Beide Frauen haben sich nie kennengelernt: Amelia Sznajderman wurde während eines Pogroms in der Stadt Zloczów (ukrainisch heute Solotschiw) am 3.Juli 1941 getötet, insgesamt wurden an die 2000 Juden und Jüdinnen ermordet. Amelia war mit ihren zwei Kindern vor den deutschen Truppen nach Ostpolen geflohen.
Die Pogromstimmung brach aus, kurz nachdem die deutschen Okkupanten in die von sowjetischen Truppen geräumten Gebiete von Ostgalizien eingerückt waren. Ukrainische Zivilisten, mit Spaten, Äxten, Spitzhacken, Knüppeln, Eisenstangen und Handgranaten bewaffnet, wurden von SS-Leuten angeführt, um die jüdische Bevölkerung zu ermorden. Die SS-Wiking-Division, die dem XIV. Armeekorps der Panzergruppe 1 unterstand, betrachtete die ersten Kriegstage im Osten als "Jagdausflug", mit Menschen als zu jagendes Wild.
Die Eltern und Geschwister ihres bald neunzigjährigen Vaters wurden bei Pogromen und in von Deutschen errichteten und betriebenen Vernichtungslagern im besetzten Polen ermordet. Ihr Vater, der Arzt Marek Sznajdermann, hat den Naziterror durchgestanden und überlebte am 9. Mai 1945 als sechzehnjähriger Jugendlicher die deutsche Nazi-Besatzungs-Terrorgewalt. Er überstand die Konzentrations-und Vernichtungslager Majdanek und Auschwitz. Es gelang ihm zu flüchten, jedoch unter pausenloser Lebensgefahr. Nach der Befreiung war er als Child Survivor am Ende mutter-und vaterseelenallein.
Das Zentralkomitee der Juden in Polen schickte den jungen Marek Anfang Juni 1945 nach Zatrzebie, in ein jüdisches Kinderheim. "Aber Überleben ist nicht alles. Man musste vom Schicksal auch noch die Chance für ein neues Leben bekommen. Denn aus der Hölle des Krieges waren alle versengt hervorgegangen." (S.229) Über dieses Kinderheim sagt Marek Sznajderman, "dass die dort verbrachte Zeit eine Zeit der physischen, psychischen und moralischen Wiedergeburt war."
Den Mord am jüdischen Volk überlebten weniger als zehn Prozent. Die größte Überlebenschance hatten jüdische Menschen in dem zentralasiatischen Teil der Sowjetunion, dort überlebten an die 250.000, während es in Polen nur etwa 50.000 Juden und Jüdinnen waren. Diese durchstanden die leidvolle Verfolgungszeit entweder im Versteck, in dunklen Erdlöchern, Ställen, Hundehütten, in polnischen Klöstern, bei polnisch-christlichen Familien, auf dem Gelände des Warschauer Zoos oder in von NS-Deutschen errichteten Zwangsarbeitslagern. Nur wenige wurden von sowjetischen Truppen in Vernichtungslagern im besetzten Polen befreit.
Fast eine Million jüdischer Kinder wurden getötet, etwa dreißig-bis vierzigtausend Kinder hatten den Mord am jüdischen Volk überlebt. "Die Kinder riefen im Schlaf nach ihren Müttern, Vätern, Großeltern, Brüdern. Sie riefen ohne Hoffnung aus Sehnsucht." (S.230)
Es gibt zwei unterschiedliche Verhaltensweisen bei Holocaustüberlebenden, die vielfach vorkommen: Die einen, die nach der Befreiung des Naziterrors in ihren neu gegründeten Familien mit ihren Kindern sprachen, sie z.T. damit unbewusst überforderten und mit ihrem erlittenen Leid gar überfluteten oder die, die vielleicht aus eigenem Schamerleben oder Schutzbedürfnis ihren Kindern gegenüber nicht über ihr erlittenes Leid sprechen konnten oder einfach nicht wollten, um ihre Kinder nicht zu belasten. Nicht wissend, dass familiäre exzessiv erfahrene Traumata nicht nur verbal, sondern auch nonverbal transgenerationell emotional nachwirken.
So erfuhr Sznajdermanns Tochter kaum etwas über ihren Vater oder über seine Herkunftsfamilie. Nicht zu übersehen war aber, dass er ein Überlebender des Holocaust ist und ein KZ-Häftling, dafür sprach unausweichlich seine auf seinem linken Unterarm eintätowierte Häftlingsnummer.
Mit diesem nicht sehr mitteilsamen Vater führt Monika Sznajderman einen erdachten und von ihr ersehnten Gedankenaustausch, bringt diesen Dialog aussagekräftig zu Papier. Daraus entsteht eine dokumentarische Erzählung, literarisch schöngeistig eingerahmt, denn aus des Vaters Schweigsamkeit erwächst ihre Sprachkunst: "Ich bin deine Erinnerung, Papa. Gewollt oder ungewollt. Aber es ist auch meine Erinnerung, und die Geschichte, die ich rekonstruiere, beginnt hundert Jahre vor meiner Geburt – im Jahre 1859, als im fernen, exotischen Radom meine fernen, exotischen Urgroßeltern zur Welt kamen: Fajga, geborene Flamenbaum, und Izreal Moszek Sznajderman."
In ihrem Buch beschreibt die Autorin mit Bitterkeit ein Fehlen am Mitgefühl und einen Mangel an Solidarität ihrer polnischen Landsleute gegenüber ihren gnadenlos verfolgten und wie Freiwild gejagten polnisch-jüdischen Nachbarn und Nachbarinnen. Das zeigte sich bei etlichen Polinnen und Polen in vielerlei Hinsicht: Gleichgültigkeit, materielle Gewinnsucht, Erpressung, Plünderung, Raub, Übernahme des Hausrats, Aneignung der Wohnungen, der Häuser, des Inventars, des Spielzeugs, der Puppen und Teddys, der Schabbatleuchter, der Gebetbücher..., DenunziantInnentum, öffentliche Verhöhnung, Ausnutzen der durch die deutsche Besatzung entstandenen Notlage, Kollaboration oder schlicht Untätigkeit aus Angst vor Verrat und Repressalien. Eine Abwesenheit an Mitgefühl, auch angesichts der radikalisierten Judenpolitik, die in Pogromen, Deportationen und Massenvernichtung mündete.
An ihre polnisch-jüdische Familie imaginär gerichtet, schreibt sie beschwörend: "Die Polen haben sich eher nicht mit assimilierten jüdischen Familien angefreundet, und falls doch, dann würde ich gern glauben, dass es nicht eure Bekannten oder Nachbarn waren, die eilig mit Fuhrwerken angefahren kamen, um nach der Liquidierung der dortigen Gettos die Häuser in Otwock, Falenica und Miedzeszyn zu plündern. Dass es nicht eure Bekannten und Nachbarn waren, die Fenster und Türen aufbrachen und Kleider und Geschirr, Bettzeug und Möbel stahlen."
Zugleich gab es aber eine erkenntliche Opferbereitschaft und eine barmherzige Hilfe etlicher Polen, denen die Rettung von Tausenden jüdischen Bürgern und Bürgerinnen zu verdanken war. Sie opponierten insgeheim und riskierten hierbei offenherzig ihr Leben. Hierzu zählen über 6500 von Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" ausgezeichneten polnische Judenretter und Judenretterinnen.
Nach dem II. Weltkrieg kam es zur Rückkehr geretteter Holocaustüberlebender. Viele von ihnen trafen oftmals auf eine lebensbedrohliche Feindseligkeit der lokalen polnischen Bevölkerung, die nicht willens war, den sich ungesetzlich angeeigneten jüdischen Besitz zurückzugeben.
Die jüdische Kultur und Tradition wurde mit der Vernichtung von Millionen von jüdischen Männern, Frauen und Kindern einschneidend mit beschädigt. Die weitreichenden Folgen berühren die zweite Generation des Holocaust bis heute und berühren auch deren Kinder. In Polen finden sich noch heute auf Trödelmärkten vereinzelt Judaica-Objekte, ein Überbleibsel der achthundert Jahre jüdischen Lebens in Polen.
Monika Sznajderman wurde in ihrer polnisch-christlichen Familie sozialisiert - mit einem jüdischen Vater, dem es gelungen ist, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Ihrer polnisch-christlichen Familie verdankt sie, dass "ich keine Leere nach meiner jüdischen Familie empfand". Und dennoch spürt sie das eine oder andere Mal, an ihre jüdischen Verwandten denkend, die sie nie wirklich erlebt hat: "... eine Leere anstelle des einstiegen jüdischen Viertels in Radom, durch das der Wind pfeift. Und auch ein seltsamer Phantomschmerz, der mich von Zeit zu Zeit befällt, wenn ich an sie alle denke."
Eine Schmerzensleere, die die Kinder von Holocaust Überlebenden oft verspüren, weil deren Eltern so gut wie keine Hinweise über ihre Kindheit und Jugend gegeben haben. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen und der Verlust. Somit erleben einige der Nachkommen der Second Generation, die als Touristen und Fremde nach Polen kommen, auf ihrer Suche nach Fragmente in dem Polen ihrer Eltern oft als Irrfahrt und als Bestätigung einer familiären Leere. Und immer wieder kommt ihnen ein vertrautes Vakuum entgegen, da es an vielen Orten im heutigen Polen zu selten eine offizielle Erinnerungskultur an jene Zeit gibt.
Anders Monika Sznajderman, sie irrte durch ein Labyrinth winziger Familien-Eckdaten und holte eine nicht mehr zurückzuholende Vergangenheit erinnernd für die Leserinnen und Leser in ihr bemerkenswertes Buch zurück.
Zur Autorin: Monika Sznajderman, geboren 1959 in Warschau, leitet zusammen mit Andrzej Stasiuk den Verlag Czarnein Wolowiec/Südpolen, den sie zu einem der führenden Verlagshäuser des Landes ausgebaut hat. Hier erscheinen seit vielen Jahren die Bücher von Herta Müller, Swetlana Alexijewitsch u.v.a. "Die Pfefferfälscher" wurde in Polen zum Bestseller. Monika Sznajderman lebt in Wołowiec.
AVIVA-Tipp: Ein Buch, dem eine große LeserInnenschaft zu wünschen ist, da es auch die Kinder und Enkel der Täter und Täterinnen, KollaborateurInnen und ZuguckerInnen animieren könnte, nachzuspüren, nachzuforschen, Familiengeheimnisse und gesellschaftliche Tabus aufzudecken und sich zu positionieren.
Monika Sznajderman
Die Pfefferfälscher
Geschichte einer Familie
Originaltitel: Fałszerze pieprzu: historia rodzinna
Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Martin Pollack
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, erschienen 26.03.2018
Gebunden, 280 Seiten, zahlreiche Abbildungen
28 Euro
Auch als eBook erhältlich
ISBN 978-3-633-54290-1
Mehr zum Buch unter: www.suhrkamp.de
Das Archiv des Jüdischen Historischen Instituts Warschau ist online unter: www.jhi.pl
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Zur Rezensentin: Nea Weissberg ist Pädagogin, Schriftstellerin und Psychodramaleiterin und Herausgeberin des Lichtig Verlags. Sie leitet seit Oktober 2017 eine Jahres-Selbsterfahrungsgruppe zum Thema‚ Second Generation nach der Shoa und veröffentlichte zum Thema diverse Beiträge u.a. folgende Bücher:
"Beidseits von Auschwitz". Dreißig Beiträge und Schlussgedanken von Halina Birenbaum.