Von Berlin nach Los Angeles - die Musikwissenschaftlerin Anneliese Landau. Herausgegeben von Daniela Reinhold im Auftrag der Akademie der Künste - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 04.06.2018


Von Berlin nach Los Angeles - die Musikwissenschaftlerin Anneliese Landau. Herausgegeben von Daniela Reinhold im Auftrag der Akademie der Künste
Bärbel Gerdes

In ihren autobiographischen Aufzeichnungen berichtet die Musikwissenschaftlerin Anneliese Landau im Alter von 84 Jahren von ihrer großen Karriere in Deutschland, die mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten jäh beendet wurde. Ein Neubeginn in den Vereinigten Staaten gestaltete sich schwer – als Jüdin, und als Frau.




Die 1903 in Halle geborene Anneliese Landau wuchs in einer liberalen und kulturell sehr interessierten jüdischen Familie auf. Ihre Mutter, Rosa Landau, war Klavierlehrerin, so dass Musik für Anneliese "so selbstverständlich wurde wie das Atmen". Anneliese hatte eine fünf Jahre ältere Schwester, Grete und einen vier Jahre älteren Bruder, der infolge eines schrecklichen Unfalls an seinem 13. Geburtstag starb. "Einige Tage später bekam ich mit, wie meine Mutter zu Freunden, die sie trösten wollten, sagte: ´Ausgerechnet der Junge!´ Ich fühlte mich schuldig, am Leben zu sein, und beschloß, meinen Eltern zum Ersatz für meinen Bruder zu werden."

Schon früh erlebte das junge Mädchen den alltäglichen Antisemitismus. Von einem Tag auf dem anderen spielte ihre beste Freundin nicht mehr mit ihr. Zur Rede gestellt, bekam Anneliese eine Antwort, die "zum Anfang eines schwarzen Fadens [wurde], der sich durch mein ganzes Leben ziehen sollte: ´Meine Eltern möchten nicht, daß ich mit einem jüdischen Mädchen befreundet bin!´" Zehn Jahre später im Lyzeum machte sie dieselbe Erfahrung mit zwei ihrer Freundinnen. "Diese letzten drei Schuljahre machten mich zu einer Kämpferin für gleiche Rechte der Juden.

"Immer wieder erlebte ich diesen Haß von Nicht-Juden auf Juden, er war in die Gesichter der deutsch-nationalen Frauen eingeschrieben … Ich konnte mich vor ihm nicht verbergen, ich konnte vor ihm nicht fliehen, ich konnte ihm nur ins Auge sehen und mich dagegen wehren." Ihr Vater, der Eier-Großhändler Salomon Landau, war streng orthodox. Den Kindern gegenüber wählten die Eltern jedoch den Weg der Freiheit, erinnert sie sich. Sie wurden zwar in die orthodoxen Gesetze eingeführt, aber nicht gezwungen, sie zu befolgen. "Es muß eine anspruchsvolle Aufgabe gewesen sein, jüdische Kinder in antisemitischer Umgebung aufzuziehen.", konstatiert Anneliese Landau.

In Halle und Berlin studierte sie Musikwissenschaften und promovierte 1930. Bereits 1928 jedoch begann sie ihre publizistische Tätigkeit, wodurch sie Alfred Einstein kennenlernte, den Schriftleiter des musikwissenschaftlichen Verlages Breitkopf & Härtel. Zeit ihres Lebens sollte sie diesem Verlag treu bleiben – und er ihr. Anneliese Landau trat in die SPD ein und veröffentlichte gelegentlich auch Artikel im Vorwärts. Eine feste Anstellung als Journalistin jedoch verhinderte ihr Frausein. Sie bewarb sich beim Berliner Tageblatt und der Vossischen Zeitung. Neben Deutschland publizierte sie in der Schweiz und in Finnland, in musikwissenschaftlichen, aber auch kunstwissenschaftlichen Zeitschriften, "aber keiner wollte eine Frau nehmen."

Ab 1930 arbeitete sie für den Rundfunk. Ihre Sendungen, eine Mischung aus Text und Musik, waren überaus beliebt. Doch im Februar 1933 erhielt sie die erste Ablehnung eines Beitrags. "Ich konnte zu dem Zeitpunkt noch nicht glauben, daß die Politik bereits das Rundfunksystem erreicht hatte." Neben dem Berliner beenden auch der Bayerische Rundfunk und der Südfunk Stuttgart die Zusammenarbeit. Im Juli 1933 trifft sie zufällig den ehemaligen Intendanten der Charlottenburger Oper, Dr. Kurt Singer. Mit ihm gemeinsam entwickelt sie die Idee eines jüdischen Kulturbundes. Jüdische MusikerInnen, SchauspielerInnen und DozentInnen sollten zusammenkommen, um ein Programm für jüdische Mitglieder anzubieten. Die Vorträge Anneliese Landaus waren ständig ausverkauft. Im Berliner Theater, das eine Kapazität von 1400 Plätzen hatte, musste sie ihre Vorträge bis zu viermal halten, weil die Nachfrage so groß war. Auch andere Kulturbünde fragten sie an, so dass sie bald durch Deutschland tourte. Als 1936 die Jüdische private Musikschule Hollaender in der Sybelstraße 9 in Berlin-Charlottenburg gegründet wurde, arbeitete sie dort bis 1937 als Dozentin für Musikgeschichte.

Die Repressalien gegen Jüdinnen und Juden wurden indes immer stärker spürbar. Die Verhaftung ihres Schwagers Curt Paechter und der Novemberpogrom 1938 machten den Landaus klar, in welcher Gefahr sie schwebten. Die drei Kinder ihrer Schwester Grete wurden mit dem Kindertransport nach Großbritannien geschickt, wo sie bei englischen Familien unterkamen.
Auch Anneliese Landaus Tätigkeit wurde weiter eingeschränkt. Ihr wurde nur noch erlaubt, über jüdische Komponisten zu sprechen. Sie, die immer frei vortrug, musste nun Manuskripte zur Prüfung einreichen. Oftmals bekam sie sie mit zahlreichen Schwärzungen wieder. Die Gestapo besuchte alle ihre Vorträge. An einem Abend sollte sie vor 1200 Leuten sprechen. Landau hatte ihren Vortrag fast vollständig gestrichen zurückerhalten. Lediglich die Musikstücke durfte sie ankündigen. Sie entschied sich für einen ungewöhnlichen und mutigen Schritt: "[ich] ging mit dem Manuskript in der Hand auf die Bühne..., kündigte den Titel des Programms an – den sie ohnehin kannten – und wendete Seite um Seite um, sehr langsam, ohne etwas zu sagen oder aufzuschauen, bis ich zu einer Zeile im Manuskript kam, die nicht gestrichen war und die so allein, aus dem Kontext gelöst, keinen Sinn ergab. Ich las sie, und dann wendete ich erneut lautlos die Seiten... Es war ein kurzer Abend und ich erhielt donnernden Applaus. Alle verstanden und gingen traurig und still nach Hause."

1939 floh die Musikwissenschaftlerin über Amsterdam nach London. Ihre Eltern, ihre Schwester und ihren Schwager ließ sie zurück in der Hoffnung, sie nachholen zu können. Sie sah sie zum letzten Mal.
In England traf sie mit den Kindern ihrer Schwester zusammen, lernte Englisch und begann wieder, Vorträge zu halten.
1944 emigrierte sie nach New York, wo sie nie Fuß fassen konnte. Zwar gab es ein Angebot für den Rundfunk, sie hatte jedoch Angst, dass ihre so bekannte Stimme ihre Familie in Deutschland gefährden könnte. Weiterhin bemühte sie sich um Ausreisedokumente für die in Deutschland Gebliebenen.
Landau selbst fand keine feste Anstellung. Sie reiste zwar mit ihren Vorträgen, hielt sich aber vor allem durch Putzen und Schreibarbeiten über Wasser.

Auch in den USA begegneten ihr Antisemitismus und Rassismus. "Die Monumentalität und der Reichtum von Washington, umgeben von der großen Armut der schwarzen Menschen, machten mit die amerikanische Hauptstadt nicht sympathisch."
1944 wird sie Direktorin der Jewish Center Association und zieht nach Los Angeles. Unter anderem baut sie dort eine wichtige Musikbibliothek auf. Doch auch dies hält nicht lange an. Ihre Stelle wird immer mehr reduziert, so dass sie schließlich in die Erwachsenenbildung wechselt.
Zudem veröffentlichte sie 1980 ihre Studie zum Lied, die mehrere Auflagen erhielt.
Anneliese Landau starb in Los Angeles am 3. August 1991.
Ihr ist es nie geglückt, ihre Eltern nachzuholen. Beide wurden in Theresienstadt ermordet, ihre Schwester Grete verstarb an den Folgen der Zwangsarbeit. Ihrer Familie wird in Halle durch Stolpersteine gedacht.

Ihre autobiographischen Aufzeichnungen verfasste Anneliese Landau auf Englisch. Ein erster Text, der in diesem Band nicht vorhanden ist, trägt den Titel Bridges to the Past und handelt vornehmlich von Familienberichten. Der hier vorliegende Text Pictures you wanted to see – People you wanted to meet, der um 1987 entstand, wurde für ihre Nichten und dem Neffen von der ca. 84jährigen verfasst. Er sollte über das rein Persönliche hinausgehen und auch den gesellschaftlich-politischen Rahmen darstellen.
Die Herausgeberin Daniela Reinhold hat dem Band die Briefe der Mutter Annelieses, Rosa Landau, an ihre Tochter hinzugefügt, die immer drängender auf eine Ausreise hofft. Wie wichtig und lesenswert diese Briefliteratur ist, kann auch in den Briefen von Anna Hess an ihre Tochter abgelesen werden. Abgerundet wird das Buch durch einen Beitrag von Lily E. Hirsch über Anneliese Landau in Los Angeles.

AVIVA-Tipp: Dass der Text für ein privates Publikum gedacht war, ist zwar spürbar, nimmt ihm aber nichts von seinem Wert. Wie die Nazis das Leben derjenigen, die ihre Mordmaschinerie überlebten, über Jahrzehnte beeinflussten, wird hier deutlich dargestellt, und auch, wie schwierig es ist, in einem fremden Land Fuß zu fassen.

Zur Autorin: Anneliese Landau wurde am 5.3.1903 in Halle/Saale geboren. Studium der Musikwissenschaften in Halle und Berlin. 1930 Promotion. Seit 1928 Publikationstätigkeit in internationalen musikwissenschaftlichen Zeitschriften. 1933 – 1938 Musikgeschichtsvorlesungen am Jüdischen Lehrhaus Berlin. Zahlreiche Vorträge vor großem Publikum im Jüdischen Kulturbund. 1939 Ausreise über Amsterdam nach London. 1940 Einreise in die USA. Ab 1944 in Los Angeles Musikdirektorin der Jewish Center Association. Lehrtätigkeit an unterschiedlichen Colleges. Anneliese Landau starb am 3. August 1991 in Los Angeles.

Mehr Informationen zu Anneliese Landau auf den Seiten des Lexikons verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit der Universität Hamburg: www.lexm.uni-hamburg.de
Mehr Informationen zu Anneliese Landau und ihrer Familie im "Gedenkbuch für die Toten des Holocaust in Halle": www.gedenkbuch.halle.de

Zur Herausgeberin: Daniela Reinhold, 1957 in Berlin geboren, ist Musikwissenschaftlerin und publizierte über Musik und Musiktheater des 20. Jahrhunderts. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Musikarchiv der Akademie der Künste in Berlin, veröffentlichte zwei Bücher über den Komponisten Paul Dessau und betreut unter anderem das Anneliese-Landau-Archiv

Von Berlin nach Los Angeles
Die Musikwissenschaftlerin Anneliese Landau

Herausgegeben von Daniela Reinhold im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin
Verlag Hentrich & Hentrich, erschienen 2017
Gebunden, 340 Seiten, 15 Abbildungen
ISBN 978-3-95565-226-5
27,90 Euro
Mehr zum Buch unter: www.hentrichhentrich.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Anna Hess - Briefe einer jüdischen Hamburgerin an ihre Tochter in Buenos Aires von 1937 bis 1943. Herausgegeben von Madelaine Linden, der Urenkelin der in Theresienstadt ermordeten Anna Hess
Das Trauma lastet schwer auf der Familie: während die Tochter mit Mann und Kindern nach Argentinien emigriert, bleibt die jüdische Mutter in Deutschland zurück. Ihre Briefe berichten vom Alltag in einer sie immer schwerer belastenden und bedrohenden Gesellschaft. (2018)

Kristine von Soden - Und draußen weht ein fremder Wind .... Über die Meere ins Exil
Wie gelang den wenigen Überlebenden 1933 bis 1941 die Flucht ins Ungewisse, was ging dem Verlust um Heimat, Familie, Sprache und Kultur voraus? Im Zentrum dieses Buches steht der verzweifelte Kampf jüdischer Emigrantinnen um Visa und Affidavits für das von den Nazis erzwungene Exil. Anhand von Tagebüchern, Briefen, Gedichten sowie unveröffentlichten Bild- und Textdokumenten und literarischen Zeugnissen aus den im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt am Main befindlichen Nachlässen jüdischer Emigrantinnen zeichnet die Autorin die dramatischen Umstände der individuellen Fluchtwege akribisch nach. (2017)

Regina Steinitz mit Regina Scheer - Zerstörte Kindheit und Jugend. Mein Leben und Überleben in Berlin. Herausgegeben von Leonore Martin und Uwe Neumärker
Die "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" gibt die "Zeitzeugenreihe" heraus, in der Holocaust-Überlebende zu Wort kommen, von denen viele erst im hohen Alter von dem traumatisch Erlebten ihrer Kindheit und Jugend berichten können. (2015)

Das Weiterleben der Ruth Klüger. Ein Film von Renata Schmidtkunz
Renommierte Literaturwissenschaftlerin, gefeierte Autorin, Feministin, Mutter, Großmutter, Überlebende der Shoa. Die Dokumentation zeigt eine facettenreiche und beeindruckende Persönlichkeit beim Denken an verschiedenen Schauplätzen ihres Lebens und Wirkens. (2013)

Brigitte Beier und Karina Schmidt - Hier spielt die Musik. Tonangebende Frauen in der Klassikszene
Sie spielen Schlagzeug oder Harfe, Kontrabass oder Geige, interpretieren Minimal-Musik oder Johann Sebastian Bach, stehen noch am Anfang ihrer Karriere oder sind alte Häsinnen. So unterschiedlich die Musikerinnen und deren Instrumente auch sein mögen, eins haben sie gemeinsam: Sie alle sind Frauen, die es geschafft haben, ihre Leidenschaft Musik zu ihrem Beruf zu machen. (2012)

Elfi Hartenstein - Jüdische Frauen im New Yorker Exil
Jüdisch, weiblich, im Exil. Wer denkt da nicht an die Ehefrauen berühmter jüdischer Intellektueller? Was ist aber mit den vielen unbekannten Biografien jüdischer Exilantinnen? Was bedeutet Exil? (2011)

Leontine Sagan - Licht und Schatten. Schauspielerin und Regisseurin auf vier Kontinenten
Die Memoiren der Regisseurin von "Mädchen in Uniform", 1951 geschrieben und 1996 in Johannesburg auf Englisch erschienen, sind nun erstmals in deutscher Sprache bei Hentrich & Hentrich erschienen. (2010)

AVIVA-Interview mit der Komponistin Ursula Mamlok
Nach weit über 60 Jahren kehrte die Komponistin Ursula Mamlok 2006 in ihre Geburtsstadt Berlin zurück. Nicht nur in den USA zählt sie zu den profiliertesten Musikschaffenden der radikalen Moderne. (2008)

AVIVA-Interview with Tessa Uys
In 1936 Helga Bassel fled from Berlin to Cape Town with her grand piano. Her daughter, Tessa Uys, has recently donated it to the Jewish Museum after the discovery of her late mother´s family secret. (2004)

Mehr zum Thema Jüdische Musik sowie Frauen in der Musik finden Sie unter:

Das Europäische Zentrum für Jüdische Musik (EZJM): www.ezjm.hmtm-hannover.de

Die Linkliste des Europäische Zentrum für Jüdische Musik (EZJM) mit Informationen zu jüdischer Musik und Recherchemöglichkeiten in Bibliotheken und digitalisierten Beständen: www.ezjm.hmtm-hannover.de/de/bibliothek

Archiv Frau und Musik – Internationale Forschungsstätte: www.archiv-frau-musik.de



Literatur

Beitrag vom 04.06.2018

Bärbel Gerdes