Gabriel Berger - Der Kutscher und der Gestapo-Mann. Berichte jüdischer Augenzeugen der NS-Herrschaft im besetzten Polen in der Region Tarnów - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 25.05.2018


Gabriel Berger - Der Kutscher und der Gestapo-Mann. Berichte jüdischer Augenzeugen der NS-Herrschaft im besetzten Polen in der Region Tarnów
Malka Mandelblatt

Gabriel Berger hat sich der Aufgabe gestellt, unmittelbar nach Kriegsende entstandene ZeugInnenberichte in polnischen Archiven zu sichten und ins Deutsche zu übersetzen. Eine ergreifende Dokumentation über die Vernichtung polnischer Juden und Jüdinnen in der Stadt Tarnów, einst die drittgrößte jüdische Gemeinschaft im ostpolnischen Galizien, und ihrer Umgebung. Diese AugenzeugInnenberichte werden zum ersten Mal veröffentlicht und sind angesichts der Kontroverse um das neue polnische "Holocaust-Gesetz" ein brisantes Thema.




Gegen das überwuchernde Gestrüpp des Vergessens

Mensch-Sein heißt sich zu erinnern, denn jede Generation ist mit der vorhergehenden verbunden.
In "Der Kutscher und der Gestapo-Mann", veröffentlicht Gabriel Berger in seiner Übersetzung aus dem Polnischen Berichte von jungen Erwachsenen und Kindern, jüdischen Überlebenden des Nazi- Besatzungsterrors und gezielter Mordaktionen in Polen. Mit seiner gut recherchierten Einführung in die zeitgeschichtliche Thematik und sorgfältiger Kommentierung erleichtert Berger das Verstehen der hier beschriebenen Situationen.

Die Aufzeichnungen wurden unmittelbar nach Kriegsende, in den Jahren 1945-1946, handschriftlich zu Papier gebracht, als die Erinnerungen an die gnadenlose Verfolgung und die ständige Angst um das eigene Leben und um das Leben der nächsten Angehörigen unmittelbar waren.
Das Buch präsentiert eine Auswahl aus Tausenden von polnisch-sprachigen Gedächtnisprotokollen aus dem Bestand des Archivs des Jüdischen Historischen Instituts Warschau. Das Verbindende der ausgewählten AugenzeugInnenberichte, die bis heute dort deponiert sind, ist, dass sie von Personen stammen, die in der polnischen Stadt Tarnów oder ihrer näherer Umgebung gelebt, dort die Gewalt und den Terror der deutschen Okkupation erlitten haben und nur durch ungewöhnlichen Mut und glückliche Umstände das über alle Juden und Jüdinnen verhängte Todesurteil der Nationalsozialisten überleben konnten.

Gerade wegen ihrer Sachlichkeit haben die Berichte eine enorme emotionale Wirkung. Sie präsentieren einen kleinen regionalen Ausschnitt des Naziterrors in Polen und in anderen von der Wehrmacht besetzten Staaten Europas, sind aber insgesamt als repräsentativ für die Haltungen und Handlungen "deutscher Herrenmenschen" gegenüber der jüdischen Bevölkerung, besonders in Osteuropa, anzusehen.
Die von den jüdischen AugenzeugInnen detailliert beschriebenen Gewaltakte übersteigen zuweilen den Rahmen des für Menschen Erträglichen und zeugen von einer vom deutschen Besatzungsregime geförderten sadistischen Lust der SS- und Gestapo-Besatzer und ihrer teils deutschen, teils polnischen oder ukrainischen Helfershelfer am Morden, ganz besonders von jüdischen Kindern: "Menschen wurden auf dem Markt versammelt, Männer, Frauen und Kinder getrennt. Den Männern und Frauen befahl man, sich umzudrehen. Danach wurden Hunde auf die Kinder gehetzt. Die Erwachsenen hörten das Weinen und Schreien der Kinder. Kurz danach sahen sie Kinderleichen in Blutlachen."

Vor 1939 haben in Polen an die dreieinhalb Millionen Juden und Jüdinnen gelebt. Den Mord am jüdischen Volk überstanden weniger als zehn Prozent. Die größte Überlebenschance hatte die jüdischen Menschen in dem zentralasiatischen Teil der Sowjetunion, dort überlebten an die 250.000, während es In Polen nach vorsichtigen Schätzungen nur etwa 50.000 Juden und Jüdinnen waren. Diese überstanden die Verfolgungszeit im Versteck, in dunklen Erdlöchern, Ställen, Hundehütten, in polnischen Klöstern, bei polnisch-christlichen Familien, auf dem Gelände des Warschauer Zoos oder in von NS-Deutschen errichteten Zwangsarbeitslagern. Nur wenige wurden von sowjetischen Truppen in Vernichtungslagern im besetzten Polen befreit.

Der Kutscher Isaak Israel aus Tarnów, der von der örtlichen Gestapo verpflichtet wurde, der Gestapo und SS kostenlos für Fahrdienste zur Verfügung zu stehen, erlebte aus nächster Nähe die Landsknechtsmentalität der deutschen Besatzer im Höheren Dienst, für die das Töten von Menschen nicht mehr war als das Ausrotten von Ungeziefer oder eine spaßige sportliche Disziplin. Der sehr detaillierte Report des Kutschers liest sich wie ein Albtraum und die Leserin könnte versucht sein, dessen Wahrhaftigkeit in Frage zu stellen, würden nicht die von ihm zu Protokoll gebrachten Grausamkeiten auch in anderen Berichten zu finden sein.

Isaak Israels Beschreibung der Szene, in der der Gestapo-Mann Rommelmann seinen vierzehnjährigen Sohn mit väterlichen Ratschlägen im kaltblütig gezielten Schießen auf Juden unterweist, lässt den LeserInnen das Blut in den Adern erstarren:
"Der größte Henker des Ghettos war Rommelmann. Er war ein sehr intelligenter Mensch. Außerdem war er sehr stattlich, schoss in weißen Handschuhen. Zu jedem seiner Opfer sagte er ´drehen Sie sich um, es tut nicht weh´. Er hatte einen achtzehnjährigen Sohn. Ihm schenkte er eine Pistole und brachte ihm bei, auf Juden zu schießen. Der Junge war im Schießen noch nicht versiert. Manchmal schaffte er es nur sein Opfer zu verwunden, das sich dann schrecklich quälte. Erst mit einigen weiteren Schüssen gelang es ihm, das Opfer zu töten."

In ihren Erinnerungen legen die jüdischen Überlebenden auch Zeugnis vom Verhalten der polnischen Bevölkerung angesichts des vor ihren Augen von den Nazi-Besatzern ausgeführten Todesurteils an ihren polnisch-jüdischen NachbarInnen ab. Selbstlose Hilfe, Gleichgültigkeit, materielle Gewinnsucht, Erpressung, Plünderung, Raub, Denunziantentum, Ausnutzen der Notlage, MittäterInnenschaft oder schlicht Untätigkeit aus Angst - die Haltungen von einigen Polen und Polinnen gegenüber dem Leid der von den deutschen Besatzern gnadenlos verfolgten und gejagten jüdischen Bürger und Bürgerinnen waren sehr unterschiedlich. Wohl hat es, wie neueste historische Forschung belegt, auch in Polen zahlreiche KollaborateurInnen mit der deutschen Besatzung gegeben, ohne die es weit weniger jüdische Opfer des Nazi-Terrors gegeben hätte. Zugleich gab es aber die Opferbereitschaft sehr vieler Polen, denen die Rettung von Tausenden jüdischen Bürgern und Bürgerinnen zu verdanken war. Davon zeugen die über 6500 von Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" ausgezeichneten polnischen Judenretter und Judenretterinnen. Es ist die mit Abstand höchste Anzahl an mutigen JudenretterInnen für ein Land. Und doch hatten tief sitzende, nationalistisch aufgeladene antisemitische Klischees, verbunden mit einem Fremdheitsgefühl gegenüber ihren als exotisch erlebten und misstrauisch beäugten jüdischen NachbarInnen sowie die Empfindung des Andersseins des polnischen und jüdischen Schicksals auch nach 1945 vielfach dazu geführt, dass Juden und Jüdinnen, die die Naziherrschaft in Polen überlebt hatten, wieder verfolgt und ermordet wurden. Dieses tragische Schicksal ereilte etwa zweieinhalb Tausend jüdische Menschen.

Der ursprüngliche Zweck der in dem Buch veröffentlichten Berichte war die juristische Verfolgung der Nazi-Kriegsverbrecher vor polnischen Gerichten. Zahlreiche deutsche Täter, Schuldige für Verbrechen an der Zivilbevölkerung Polens, wurden kurz nach dem II. Weltkrieg in Polen abgeurteilt, so auch der berüchtigte Mörder von Tarnów, der schießwütige SS-Sturmscharführer Wilhelm Heinrich Rommelmann, und der als besonders grausam bekannte Kommandant des Konzentrationslagers Płaszów und Liquidator des Ghettos von Tarnów, SS-Hauptsturmführer Amon Göth. Beide wurden nach dem Krieg durch Westalliierte in Deutschland gefasst und an Polen übergeben, wo sie in Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt und kurz darauf exekutiert wurden. Die dem Buch beigefügten polnischen Berichte über die Exekutionen beider Nazi-Täter zeigen den Willen der polnischen Justiz, die NS-Mörder in Strafverfahren zeitnah zur Rechenschaft zu ziehen und für ihre unmenschlichen Taten zu verurteilen. Im Gegensatz dazu hat die deutsche Justiz den meisten Nazi-Tätern einen Freibrief ausgestellt oder sie erst Jahrzehnte nach dem II. Weltkrieg angeklagt.

Die Veröffentlichung der Erinnerungen von Überlebenden in deutscher Sprache kann auch als eine späte Würdigung des einst so vielfältigen und blühenden jüdischen Lebens der Stadt Tarnów mit 45% jüdischer Bevölkerung vor dem Krieg, eine Verneigung vor der Tragik des von Nazi-Henkern inszenierten sinnlosen Sterbens der jüdischen Bürger und Bürgerinnen der Stadt, vor dem Lebensmut der Überlebenden, wie auch vor dem verzweifelten Heroismus der jungen jüdischen Kämpfer gegen den übermächtigen nationalsozialistischen Feind verstanden werden:
"Sie hatten vergeblich versucht, mit Pistolen in den Händen die Bewohner des Ghettos zum ungleichen Kampf gegen die Peiniger mitzureißen. Sie wussten genau, welches Schicksal die Nazis ihnen zugedacht hatten und wollten sich nicht mit dem Tod in Gaskammern, mit dem Ersticken in Viehwaggons, mit der Exekution auf der Straße, im Wald oder auf dem Friedhof abfinden. Sie bevorzugten, wenn es nicht anders ging, im Kampf zu sterben."

Die Beschränkung der in diesem Buch präsentierten ZeitzeugInnenschilderungen von Holocaust-Überlebenden auf eine Kleinstadt und ihre Umgebung macht die Beschreibungen der Leiden jüdischer Menschen in der Shoah für die heutigen LeserInnen anschaulich, und miterlebbar.

Millionen Tote sind zu abstrakt, um Emotionen zu wecken. In den hier vorgestellten ZeugInnenaussagen berührt jede/r der Erzählenden einen kleinen Ort im Herzen der LeserInnen.
Das Buch von Gabriel Berger stellt in überzeugender Weise die Menschenfeindlichkeit des nationalsozialistischen Systems dar und ist deshalb und wegen der Berichte von jüdischen Kindern besonders für Jugendliche als ergänzende Literatur zum Geschichtsunterricht zu empfehlen.
In "Der Kutscher und der Gestapo-Mann" gelingt es Gabriel Berger mit den ins Deutsche übertragenen Geschichtsdokumenten, Erinnerung konkret erfassbar und fühlbar zu machen.

AVIVA-Tipp: Ein Buch gegen das überwuchernde Gestrüpp des Vergessens, das das Wissen um die historische und familiäre Vergangenheit der nachfolgenden Generation anvertraut. Die Publikation "Der Kutscher und der Gestapo-Mann" zeigt auf, dass die Begebenheiten über die polnisch-jüdischen Ereignisse de facto stattgefunden haben, ausgelöst durch die Erbarmungslosigkeit der deutschen Besatzungsmacht im 20. Jahrhundert.

Zum Autor: Gabriel Berger, Sohn polnisch-jüdischer Eltern wurde 1944 in Südfrankreich im Exil geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Polen. Seit 1957 lebte er mit den Eltern in der DDR. Nach seinem Physikstudium arbeitete er im kernphysikalischen Bereich. Nach einjähriger politischer Haft konnte Berger 1977 in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen.
Ebenfalls im Lichtig Verlag erschien 2016 Gabriel Bergers Buch "Umgeben von Hass und Mitgefühl. Jüdische Autonomie in Polen nach der Shoah 1945-1949 und die Hintergründe ihres Scheiterns".

Gabriel Berger
Der Kutscher und der Gestapo-Mann
Berichte jüdischer Augenzeugen der NS-Herrschaft im besetzten Polen in der Region Tarnów

Lichtig Verlag, erschienen April 2018
ISBN: 978-3-929905-39-7
174 Seiten
EUR 14,90
Mehr Infos, Lesungstermine und Buch-Bestellung unter: www.lichtig-verlag.de

Das Archiv des Jüdischen Historischen Instituts Warschau ist online unter: www.jhi.pl

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Beitrag vom 25.05.2018

AVIVA-Redaktion