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Beitrag vom 12.02.2018
Susan Neiman - Widerstand der Vernunft. Ein Manifest in postfaktischen Zeiten
Lisa Goldberg
Ein Appell an die Vernunft. Die Philosophin, pragmatische Idealistin, Feministin und Direktorin des Einsteinforums in Potsdam, Susan Neiman, ruft gut ein Jahr nach der Amtseinführung Trumps in ihrem aktuellen Buch zu zivilgesellschaftlichem Engagement auf – und äußert darin die Hoffnung für ein demokratisches und freidenkendes Europa. In ihrer akribischen Analyse komplexer Strukturen ...
... der Amerikanischen und Europäischen Geschichtsschreibung sowie zeitgenössischer Fake News warnt sie vor der Haltung, jeder Anspruch auf Werte und Wahrheit sei ein Machtanspruch, weise ideologische Quellen auf und rät, diese zu reflektieren.
Neiman fordert in ihrer aktuellen Denkschrift nicht nur dazu auf, als wahr verkaufte Informationen in Frage zu stellen, sondern auch Ideologien von Geschichte und Zukunft, Gefühl und Vernunft sowie Moral zu hinterfragen.
Die zeitgenössische jüdisch-US-amerikanische Philosophin Susan Neiman ist vermutlich vielen Leserinnen durch zahlreiche Artikel und Interviews und nicht zuletzt durch ihre Bücher wie "Das Böse denken" oder "Warum erwachsen werden?" gut bekannt.
Welchen Beitrag kann die Sicht einer amerikanischen Autorin, die seit 17 Jahren in Deutschland lebt, für Europa leisten, wenn sie sich zu dem gegenwärtigen Phänomen des Postfaktischen äußert? Sie kann dazu aufrufen Konsequenzen zu ziehen, sich der eigenen Moral zu besinnen, und sich auf die Suche nach der Bedeutung hinter den sogenannten "Fake-News" zu machen.
Sorgsam zieht Neiman in ihrem aktuellen Buch Linien und Vergleiche der politischen Geschichte und appelliert sowohl an die BürgerInnen Europas als auch Amerikas, sich gegen konservativem Nationalismus und Populismus stark zu machen und den Informationsfluss durch soziale Medien zu reflektieren.
Die zentrale These lautet: Durch die mediale Verbreitung "glatter Lügen" wird jeglicher Sinn für Wirklichkeit und Wahrheit zerstört
Wie schon in ihren vorherigen Veröffentlichungen öffnet die Direktorin des Einstein Forums auch in diesem Buch einen politisch-philosophischen Diskurs ohne dabei abstrakt zu werden. Ohne dabei an Intellekt einzubüßen, bleibt sie für ein größeres Publikum verständlich. So rollt Susan Neiman Philosophie- wie auch Kulturtheorien methodisch auf und verknüpft Lehren u.a. von Adorno, Arendt, Fish, Foucault, Kant, Nietzsche, Klemperer, Marx mit Diskursen aus dem Jahr 2017.
Philosophie zeigt für die Wissenschaftlerin im Spannungsfeld von "Wahrheiten" in Medien, Politik und Geschichte Lösungsansätze auf. Dabei werden sowohl die gegenwärtige populäre Geschichtsschreibung, als auch eine Politik, die sich postmoderner Theorien bedient kritisiert - in einer postfaktischen Zeit, in der soziale Medien alles zu sein scheinen.
Persönliche Gedanken wie auch Anekdoten zum vereinigten Deutschland fließen in diese Analyse mit ein. Besonders bemerkenswert ist an dieser Stelle die selbstreflektierte und sensible Auseinandersetzung Neimans mit deutschen historischen Diskursen – ohne jedoch dabei einem Geschichtspessimismus zu verfallen.
Eine Analyse zu Wahrheitsansprüchen, Werten und Vernunft
Die überzeugte Kantianerin zeigt ideologische Quellen auf, die dazu geführt haben, dass ein Mann wie Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt werden konnte. Nachdrücklich äußert sie Kritik am Umgang der Bevölkerung mit den Informationen durch nationale und internationale Medien, sowie an den Medien selbst und hält der USA :"wo die Verachtung der Wahrheit am und das Aufgeben der Suche nach der Wahrheit [am größten ist]“ (S. 47) ein massives Versäumnis vor.
Sie stellt fest: "die Evolutionstheorie will mit unbeweisbaren wissenschaftlichen Theorien untermauern, dass auch unsere Urahnen und sogar unsere Gene nur mit dem Ziel handeln würden, sich selbst zu vermehren. Gemeinsam haben beide Disziplinen die Annahme, dass Wahrheitsansprüche immer Machtansprüche sind. Wenn es überhaupt Fakten gibt, sind es Fakten über Dominanz" (S. 51).
Denn, so schreibt die Autorin: "Wahrheiten drohen zu verschwinden, wenn der Begriff der Wahrheit auf Macht reduziert wird" (S. 58).
Das Wort des Jahres 2016
Sowohl vom Oxford Dictionary wie auch der GfdS (der Gesellschaft für deutsche Sprache) wurde "post-truth", zu Deutsch "postfaktisch", zum Wort des Jahres 2016 gekürt. Da hierfür nicht die Häufigkeit eines Ausdrucks, sondern seine Signifikanz bzw. Popularität bei der Wahl im Vordergrund steht, widmet sich Neiman einem offensichtlich bedeutsamen und hochaktuellen Thema.
Sie weist auf die Fatalität bewusst verbreiteter Falschmeldungen hin, schließlich "gewöhnt sich [der Mensch] an alles, was öfter wiederholt wird" (S.14). Die Autorin, die sich schwerpunktmäßig mit Moralphilosophie und politischer Philosophie beschäftigt, sieht in kolportierten Informationen eine nicht zu unterschätzende Gefahr, denn "Lügen werden immer mehr zur Normalität, das Vertrauen immer weiter zerstört, und dieser Vertrauensverlust wird wiederum für weitere Lügen ausgenutzt" (S. 11).
Nicht nur Trump
Bereits Ronald Reagan als 40. Präsident der Vereinigen Staaten (1981-1989) und aktuell Donald Trump ersetzen laut Neiman Politik durch Entertainment und nutzen die Medien für ihre Zwecke. In ihrer Untersuchung der Amerikanischen Politik greift Neiman auch Themen wie Kapitalismus und Globalisierung kritisch auf. Spezifische Ereignisse wie die Wahl Trumps als Folge der Regierungszeit Barack Obamas projiziert sie auf Europa, auf Deutschland – wenn nicht sogar auf die Leserin. In diesem Zusammenhang diskutiert sie auch den Grund für den Hass vieler AmerikanerInnen auf Obama und findet Antworten bei einem der einflussreichten Afroamerikaner des 19. Jahrhunderts: Frederick Douglass. Dieser schrieb "Bleibt der Schwarze unterdrückt, wird er toleriert, erst sein Aufstieg treibt die Rassisten zur Wut oder schlichtweg die Angst vor Rache an der weißen amerikanischen Bevölkerung" (S. 29). Demnach wäre, so Susan Neiman weiter, Donald Trump letztendlich eine "Rache für Obama" (S. 31).
Europas Potential
Mit ihrer Analyse tritt die Philosophin Susan Neiman ein für ein feines Stück Menschheit und vermittelt in Zeiten populärer Schwarzmalerei Perspektiven. "Wird Trump Europa dazu bringen, seine eigenen Tugenden neu schätzen zu lernen, und viele Europäer dazu bewegen, sich zivilgesellschaftlich dafür zu engagieren?" (S. 74).
Beantworten kann diese Frage wohl nur jede und jeder für sich selbst.
Neiman ist sich der Komplexität und Herausforderung bewusst, den ein Vergleich Deutschlands bzw. Europas mit den USA darstellt. In der politischen und verfassungsrechtlichen Struktur Europas sieht sie Potential: "Europa kann ein Beispiel dafür geben, wie kulturelle Vielfalt mit politischer Einheit zusammenkommt nämlich dann, wenn Europa seien eigenen Ideale (wieder) entdecken würde." (S. 72).
Ideologien und Rechtsnationalismus
In ihrem Kapitel "Armut und Rassismus. Wahrheiten und Lügen" untersucht Susan Neiman die weitverbreitete Annahme, dass die WählerInnen der Rechtsnationalen Parteien sowohl in den USA als auch in Europa vor allem der armen oder bildungsschwachen Bevölkerungsschicht und den GlobalisierungsverliererInnen angehörten: es seien nicht alleine jene, die ihre Stimme rechtsnationalen PolitkerInnen gaben und geben.
Die Philosophin bietet Strategien an, ohne die politisch unterschiedlichen Strukturen zwischen USA und Europa zu nivellieren: "Die Europäer müssen ihre eigenen Strategien entwickeln, um die Rechtsnationalen zu bekämpfen" (S. 62).
Wer möchte sich ihr anschließen?
Mit ihrem schmalen jedoch gehaltvollen Manifest appelliert die überzeugte Kantianerin, wie sie sich selbst bezeichnet, übernommene Ideale zu überdenken und zu hinterfragen, wie die Welt ist – und nicht zuletzt wie die Welt sein soll.
AVIVA-Tipp: Beachtung finden sollte dieses Buch vor allem wegen seiner zeitlosen Aktualität und inhaltlichen Dichte. Auf 80 Seiten führt Susan Neiman sorgsam wie spannend und mit Humor in einen politisch-philosophischen Diskurs ein, rollt dabei die (westliche) Weltgeschichte nochmal auf, dreht und wendet sie und zieht Verbindungen zum aktuellen Weltgeschehen.
"Widerstand der Vernunft" ist eine anregende Lektüre für eine universell aufgeschlossene LeserInnenschaft.
Zur Autorin: Die US-Amerikanische Philosophin Susan Neiman wurde 1955 in einer jüdischen Familie in Atlanta, Georgia, geboren. Nach ihrer Promotion in Philosophie in Harvard war Neiman ab 1986 in Deutschland an der Freien Universität Berlin tätig. Anschließend lehrte sie als Professorin an der Yale Universität (1989 - 1996) und der Universität in Tel Aviv (1996 - 2000). Ihre Hauptarbeitsgebiete sind die Moralphilosophie, politische Philosophie und die Philosophiegeschichte.
Die Mutter von drei Kindern lebt in Berlin. Seit 2000 ist sie als Leiterin des Einstein Forums in Potsdam tätig und nimmt darüber hinaus als Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften den interdisziplinären Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaftsbildung wahr.
Neben zahlreichen Interviews sowie Publikationen von und zu ihr in Deutscher wie auch Englischer Sprache erschien 2010 eine Neuauflage ihres Buches "Slow Fire – Jewish Notes from Berlin".
Auf Deutsch sind bisher erhältlich: "Das Böse Denken" (2004), "Fremde sehen anders" (2005), "Moralische Klarheit" (2010) und zuletzt "Warum erwachsen werden. Eine philosophische Ermutigung" (2015).
Mehr Informationen auf der Website von Susan Neiman: www.susan-neiman.de
Ein Interview mit Susan Neiman "NOT ASSIMILATING IS A CHOICE" anlässlich der Berlin Biennale 2011 ist online unter: blog.berlinbiennale.de
Susan Neiman
Widerstand der Vernunft
Ein Manifest in postfaktischen Zeiten
ecoWIN, erschienen Mai 2017
Hardcover, 80 Seiten
ISBN 13 9783711001542
8,00 Euro
Mehr Informationen zum Buch: www.ecowin.at
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Susan Neiman - Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung
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