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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 09.12.2017


Olivia Rosenthal - Ãœberlebensmechanismen in feindlicher Umgebung
Bärbel Gerdes

Eine feindliche Umgebung voller Unsicherheiten, Düsternisse und Bedrohungen präsentiert die französische Schriftstellerin Olivia Rosenthal ("Wir sind nicht da, um zu verschwinden") in ihrem neuen Roman. Verlust, Schuld, Angst sind die Themen in diesem spannungsgeladenen Werk, das alptraumhafte Szenerien mit großer Brillanz fühlbar macht.




Der britische Dichter John Keats schrieb in der Zeit der Romantik von der "Negative[n] Befähigung, d.h. wenn jemand fähig ist, das Ungewisse, die Mysterien, die Zweifel zu ertragen, ohne alles aufgeregte Greifen nach Fakten und Verstandesgründen." Genau diese Fähigkeit fordert Olivia Rosenthal der Leserin in ihrem Roman ab, denn über weite Strecken bewegen wir uns in einem weder zeitlich noch lokal verortbaren Raum.

Die Ich-Erzählerin befindet sich auf der Flucht. Sie muss sich verstecken und lässt eine Frau an einer Straße hinter einer struppigen Hecke zurück. "Ich sagte Ich verlasse dich. Ich sagte Ich kann nicht anders. Ich sagte Wir wären beide gestorben. Ich sagte Es ist besser, wenn eine von beiden überlebt."

Die Leserin wird vollkommen im Unklaren darüber gelassen, wovor die Erzählerin flieht. Nur die große Angst vor der Entdeckung wird deutlich, die Angst vor einer Gruppe, die auftauchen und sie finden könnte. Nicht weniger beängstigend jedoch die Angst, niemals wieder gefunden zu werden.
Dazwischen, kursiv abgesetzt, Berichte über Nahtoderfahrungen, über den "kritischen Moment des Übergangs vom Leben zum Tod".

Plötzlich befindet sich die Icherzählerin in einem Haus, das sie putzt, in dem sie alles ordnet, um zu bemerken, ob jemand das Haus betritt. Krümel und leicht verschobene Gegenstände werden zur unsichtbaren Bedrohung und erinnern fast an die furchtbaren "Hausbesuche", die Herta Müller in ihren Romanen beschreibt: die Verunsicherung als Folterinstrument.

Olivia Rosenthal, die bisher rund zehn Romane schrieb, von denen viele mit Preisen ausgezeichnet wurden, vermag mit ihrer stilistischen Direktheit und Unmittelbarkeit die Leserin in einer permanenten Spannung zu halten und dies, obgleich vollkommen unklar ist, worum es denn eigentlich geht. Alptraumhaft und bedrohlich sind alle von ihr entworfenen Szenerien.

Der vorliegende ist der zweite Roman der Autorin, der in diesem Jahr in Deutschland erscheint. Bereits im August veröffentlichte der Ulrike Helmer Verlag "Wir sind nicht da, um zu verschwinden", in dem es um die Frage geht, was uns mit der Welt verbindet, wenn wir Verlust erleiden. Für diesen Titel erhielt Rosenthal 2007 den Prix Wepler der Fondation La Poste.
Die Dramatikerin und Performerin ist zugleich Literaturdozentin an der Université Paris. Dort gründete sie 2013 und leitet seitdem einen Master-Studien-gang für literarisches Schaffen (création littéraire).

AVIVA-Tipp: Gemeinsam mit der Protagonistin begibt sich die Leserin auf unsicheres Terrain in einer alptraumhaften Welt.

Zur Autorin: Olivia Rosenthal, Romanautorin, Dramatikerin, Performerin und Literaturdozentin, wurde 1965 in Paris geboren. Sie hat zahlreiche Romane geschrieben, darunter On n´est pas là pour disparaître, 2007 (dt.: "Wir sind nicht da, um zu verschwinden", 2017), für den sie 2007 den Prix Wepler gewann. Que font les rennes après Noël?, 2011 ausgezeichnet mit dem Prix Alexandre-Vialatte und dem Prix du Livre Inter. Zudem schreibt sie Hörspiele und Theatertexte. Seit 2013 leitet sie gemeinsam mit Lionel Ruffel und Vincent Message den ersten Masterstudiengang für Kreatives Schreiben in Frankreich, (création littéraire) an der Universität Paris.
Olivia Rosenthal lebt in Paris.

Zur Übersetzerin: Nicola Denis, 1972 in Celle geboren, studierte in Köln Germanistik, Kunstgeschichte und Romanistik. 2001 Promotion mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte ("Tartuffe in Deutschland", 2002).
Seit 2002 arbeitet Denis hauptberuflich als Literaturübersetzerin. Sie übersetzte u.a. Alexandre Dumas, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray. Nicola Denis lebt in Westfrankreich.

Olivia Rosenthal
Ãœberlebensmechanismen in feindlicher Umgebung

Originaltitel: Mécanismes de survie en milieu hostile, 2014
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Verlag Matthes & Seitz, erschienen 2017
Hardcover, 192 Seiten
20,00 Euro
ISBN: 978-3-95757-479-4
www.matthes.seitz-berlin.de

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Beitrag vom 09.12.2017

Bärbel Gerdes