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Beitrag vom 05.12.2017
Selja Ahava – Dinge, die vom Himmel fallen
Bärbel Gerdes
In ihrem neuen Roman zeigt die finnische Drehbuchautorin und Schriftstellerin Selja Ahava ("Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm"), wie schnell sich das Leben ändern kann und was Zufälle mit uns machen. Heilt die Zeit alle Wunden? "Es gibt Dinge, die nicht mit der Zeit verschwinden. Sie werden nicht matt und nicht weich und verwandeln sich nicht in Erinnerungen. Sie bleiben immer gleich hart und groß, sie stehen wie eine Säule im Bauch und in der Brust des Menschen, und dort tönen sie dann hohl."
Die kleine Saara hat ihre Mutter verloren. Ganz plötzlich ist sie gestorben, durch einen Unfall, durch einen unwahrscheinlichen Zufall, der Realität wurde.
Saaras Tante hat beim Lotto gewonnen, den Hauptgewinn. Plötzlich ist sie reich. Und kurze Zeit später gewinnt sie erneut – wieder den Hauptgewinn.
Der Hochseilartist Karl Wallenda, der auf eine 58jährige Karriere zurückblicken konnte, stürzte 1978 in die Tiefe und in den Tod, weil die Meeresbrise plötzlich auffrischte.
Dinge, die vom Himmel fallen setzt sich mit dem auseinander, was mit den Menschen passiert, denen ein solcher Zufall widerfährt. Tante Annu, "eine große und starke Frau, auch wenn sie manchmal zu schüchtern war, um anderen in die Augen zu schauen fällt erst einmal in einen tiefen Schlaf, aus dem sie lange nicht erwacht.
Saaras Vater ergibt sich der Trauer, dem Hadern und den endlosen Fragen nach dem Warum. Die kleine Saara beobachtet all dies und versucht, mit ihrem eigenen Schmerz umzugehen und ihre Mutter bei sich zu behalten. Sie möchte sich richtig an ihre Mutter erinnern können, "so, wie sie normalerweise war." Saaras Liebe zu Hercule Poirot bringt sie dazu, eigene Schlüsse zu ziehen. Denn sie glaubt nicht daran, dass die Zeit die Wunden heilt, sondern hält dies eher für einen Trick der Erwachsenen: "Die Erwachsenen sagen, die Zeit heilt alle Wunden, und damit ist gemeint, dass die Zeit vergeht und sich deswegen alles, was passiert, in Gedanken verwandelt und man sich immer schlechter daran erinnern kann. Wenn man sich dann nur noch ganz schlecht erinnert, ist die Wunde verheilt."
Dass dies nicht immer gelingt, beweisen ihre durchdringenden Schreie in der Nacht.
Gleich mit ihrem ersten Roman Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm (Eksyneen muistikirja, 2010) gewann Selja Ahava den Europäischen Literaturpreis und fand sich auf den Bestsellerlisten wieder. In ihm geht es um das Vergessen und um den Verlust.
Schon dort verstand es die finnische Drehbuchautorin und Schriftstellerin, die Leserin durch eine lyrische, zarte Sprache zu verzaubern. Stefan Moser hat diese einfühlsam ins Deutsche übersetzt.
Auch in diesem Roman kommt die Erzählung fast wie ein Märchen daher – und ist es doch nicht.
Die wechselnden Perspektiven und unterschiedlichen stilistischen Mittel, die Mischung aus Briefroman, Erzählung, Auszügen aus Märchen, machen den Roman zu einem stillen, sehr tröstenden Leseerlebnis.
"Manchmal fällt der Himmel herab, manchmal sinkt der Erdboden ein. Manchmal trifft einen ein so unfassbares Glück, dass es schwer ist, damit weiterzuleben. Manchmal passiert etwas – nur ein einziges Mal - , aber man muss den Rest seines Lebens über das Warum nachdenken. Manchmal passiert nichts, und man denkt den Rest seines Lebens darüber nach, warum es nicht passiert ist."
AVIVA-Tipp: Selja Ahava hat einen zum Nachdenken anregenden Roman geschrieben, der trotz der Tiefe des Themas manches Mal laut auflachen lässt. Ihre phantasiereichen und bunten Einfälle lassen uns das Buch hochzufrieden aus der Hand legen.
Zur Autorin: Selja Ahava, 1974 geboren, studierte Dramaturgie an der Theaterhochschule Helsinki und schrieb Drehbücher für Filme und Fernsehserien sowie Hörbücher, bevor sie mit Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm ihren ersten Roman veröffentlichte. Sie hat fünf Jahre in London verbracht und lebt seit ihrer Rückkehr nach Finnland mit ihrer Familie in Porvoo. (Verlagsinformationen)
Zum Übersetzer: Stefan Moser, geboren 1964 in Mainz, lebt als Autor und Übersetzer mit seiner Familie in Espoo, Finnland. Er übertrug u.a. Werke von Hannu Raittila, Kari Hotakainen, Petri Tamminen und Daniel Katz ins Deutsche. Stefan Mosters Romane erscheinen im mareverlag, zuletzt Die Frau des Botschafters (2013).
Selja Ahava
Dinge, die vom Himmel fallen
OT: Taivaalta tippuvat asiat
Aus dem Finnischen von Stefan Moser
Mare Verlag, erschienen im Februar 2017
Hardcover, 208 Seiten, mit Lesebändchen
20,00 Euro
ISBN: 978-3-86648-242-5
www.mare.de
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